
Wählen mit Herz, Hirn und Verstand
Endlich ist er da – der große Tag! Endlich ist Bundestagswahl. Und das bedeutet: Der Wahlkampf ist vorbei! Ich bin ehrlich gesagt froh darüber. Denn in den letzten Wochen und Monaten habe ich oft ganz schön gelitten, wenn ich Nachrichten, Politshows oder Wahlwerbung gesehen habe.
Mein Eindruck war: Viele Politikerinnen und Politiker haben sich weniger mit den wirklichen Nöten der Welt beschäftigt als mit sich selbst. Umfragewerte, Koalitionen, persönliche Befindlichkeiten – das ist scheinbar alles wichtiger gewesen als die großen Fragen unserer Zeit, wie zum Beispiel das Klima.
Wahlkampf ist Inszenierung
Klar, Wahlkampf ist ja immer ein Stück weit Inszenierung: Bestimmte Themen spielen eine Rolle - und andere eben nicht. Dieses Mal hat es mich aber besonders genervt. Vielleicht, weil ich mich oft gefragt habe: Worum geht’s hier eigentlich? Um uns alle – oder um euch?
Anschläge auf Unschuldige
Dazu kommt, dass genau in dieser Zeit Schreckliches passiert ist: Drei Anschläge von Männern, die in Deutschland Asyl gesucht hatten, auf unschuldige Menschen, sogar Kinder!
Ich könnte heulen, wenn ich so was höre. Aus Wut, weil es keiner verhindert hat. Aus Mitgefühl mit den Opfern. Aus Angst, weil diese Anschläge mitten auf der Straße, am helllichten Tag passiert sind. Und aus Hilflosigkeit: Was kann ich schon tun, um so etwas zu verhindern?
Das limbische System wird vom Wahlkampf aktiviert
Diese Gedanken lassen mich nicht los. Sie treiben mich um – und das löst Stress in mir aus. Unter Stress passiert in meinem Gehirn etwas Entscheidendes - was letztlich auch erklärt, warum ich so angestrengt bin vom Wahlkampf. Das limbische System, das für die Emotionen zuständig ist, fährt hoch. Gleichzeitig wird der präfrontale Kortex heruntergeregelt – also der Teil des Gehirns, der für überlegtes Handeln verantwortlich ist.
Das bedeutet: Ich fühle stark, kann aber schlechter nachdenken. Unsere Gehirne sind so programmiert – seit der Steinzeit. Das hat ja auch seinen Sinn: Wenn zum Beispiel ein Säbelzahntiger angreift, muss blitzschnell klar sein: Kämpfen oder fliehen? Fight or flight? Da ist keine Zeit für lange Analysen.
Der "Kampf ums Überleben"
Diese Mechanismen haben unser Überleben gesichert und sind seitdem im Stammhirn, dem ältesten Teil unseres Hirns, abgespeichert. Aber: Sie helfen uns heute nicht unbedingt weiter. Denn in den meisten Fällen stehen wir nicht mehr gefährlichen Raubtieren gegenüber – sondern komplexen gesellschaftlichen Herausforderungen. Trotzdem reagiert unser Gehirn oft noch so, als würde es ums nackte Überleben gehen.
In den vergangenen Wochen und Monaten sind mir keine Raubtiere begegnet. Aber diffuse Bedrohungen gab es während des Wahlkampfs genug, finde ich: Die vielen Meldungen zu Kriegen und Krisen in der ganzen Welt, Ukraine, Gaza, dann noch Trumps Wiederwahl - und eben die politischen Machtspiele hier bei uns.
Mein Gehirn war wochenlang im Alarmzustand. Das ist nicht nur ungesund, sondern auch gefährlich: Denn ein gestresstes Gehirn ist anfällig für einfache Lösungen. In lebensbedrohlichen Situationen ist das praktisch – bei einer Wahlentscheidung aber nicht. Da ist ganz anderes vonnöten.
Musik
Stress schon vor der Wahl
Heute muss ich meine Wahlentscheidung treffen. Aber ich stehe unter Stress. Kein Wunder: Nicht nur in Deutschland geht es drunter und drüber. Die Welt steht in Flammen: Kriege, schmelzende Polkappen, vermüllte Meere, faschistische Regierungen. Das sind gute Gründe, sich ernsthaft bedroht zu fühlen, quasi gefühlte Säbelzahntiger.
Aber wenn mein Stammhirn die Kontrolle übernimmt, reagiere ich nicht mehr überlegt, sondern impulsiv – was bei einer Wahlentscheidung fatale Folgen haben kann. Denn dann bleiben mir nur zwei Reaktionen: Erstens: Kampf. Angriff auf „die da oben“. Mich Parteien anschließen, die alles plattmachen wollen, was gefährlich werden könnte. Oder zweitens: Flucht. Bedrohungen ignorieren, weitermachen wie bisher – oder gar nicht erst wählen gehen.
Weglaufen ist keine Lösung
Ich gebe offen zu: Beide Optionen haben ihren Reiz. Denn weder beim Kämpfen noch beim Weglaufen muss ich groß nachdenken. Das fühlt sich erstmal gut an, endlich raus aus dem ganzen Stress. Aber: Beide Optionen lösen kein einziges Problem, denn: Was gegen den Säbelzahntiger geholfen hat, hilft nicht bei demokratischen Entscheidungen.
Denn in der Politik gilt: Wenn ich Menschen ausgrenze, weil ich sie als Bedrohung empfinde, schaffe ich nur noch mehr Hass und Gewalt. Und wenn ich einfach nichts tue, bleibt alles, wie es ist – oder wird schlimmer. Kampf und Flucht sind beim Wählen keine Option.
Was also tun?
Initiative "Für alle. Mit Herz und Verstand"
Für mich bringt es eine Initiative der christlichen Kirchen zum Wahlkampf auf den Punkt: „Für alle. Mit Herz und Verstand.“ Das gefällt mir. Denn es erinnert mich daran, dass ich mehr bin als mein Stammhirn. Ich kann abwägen, muss mich nicht in die Enge treiben lassen.
Im Wahlkampf habe ich Politikerinnen und Politiker erlebt, die meine Wut oder Angst verstärken wollten – vermutlich, um meine kämpferischen Instinkte zu wecken. Aber: Ich bin kein Steinzeitmensch. Ich muss nicht kämpfen, und ich muss auch nicht weglaufen. Ich kann, ich darf und ich muss überlegen und gewissenhaft abwägen, wie ich mit den Bedrohungen dieser Welt umgehe. Wie das geht, dazu haben auch die Kirchen etwas gesagt vor dieser Bundestagswahl.
Musik
Gemeinsamer Aufruf beider Kirchen
„Wählen: Für alle. Mit Herz und Verstand“ – dazu rufen die evangelische und katholische Kirche gemeinsam auf. Konkret werben sie dafür: Orientiert euch bei eurer Wahl an den Werten, für die schon Jesus eingestanden hat: Menschenwürde, Nächstenliebe, Zusammenhalt. Diese drei Worte stehen groß auf den Plakaten und Bannern der Aktion, und sie sind für mich fast so etwas wie ein christlicher Wahl-O-Mat.
Nicht kompliziert, aber auch nicht banal. Sie benennen genau das, worauf es ankommt, wenn Menschen gut zusammenleben wollen: Jeder Mensch ist gleich viel wert. Es braucht Mitgefühl und Verantwortung füreinander. Und es braucht ein Gefühl von: Wir gehören zusammen. Die Kirchen schreiben in ihrem Leitbild: „Wenn wir Gesellschaft gestalten, wenn Politik gemacht wird, wenn wir diskutieren, wenn wir streiten, wenn wir wählen – dann sowohl mit Herz als auch mit Verstand. (…) Das macht unsere Ganzheitlichkeit als Menschen aus.“
Wählen, wie Jesus es getan hätte
Das ist es! Ich lasse mich nicht vor den Karren von Parteien spannen, die nur meine Ängste triggern und dann vermeintliche Heilsversprechen machen. Dafür geb ich meine Stimme nicht her.
Ich werde so wählen, wie ich glaube, dass Jesus es getan hätte: Mit Hirn, Herz und Verstand. Jesus hat sich nie aus Angst oder Hilflosigkeit zu etwas drängen lassen. Er hatte ein feines Gespür dafür, woran Menschen wirklich leiden und was ihnen fehlt. Und bevor er etwas entschieden hat, hat er sich erstmal zurückgezogen, ist in sich gegangen und hat gebetet.
Den Stresslevel minimieren
Das bedeutet für mich: Ich werde jetzt erstmal ein bisschen für mich sorgen und mein Stresslevel runterfahren, am besten mit einem Spaziergang. Da kann ich sowieso am besten Zwiesprache halten mit Gott und mit meinem Gewissen. Ich werde Gott um ein weises Herz bitten und um einen wachen Verstand – und um ein Hirn, dass sich nicht von den Bedrohungen dieser Welt in die Irre führen lässt.
Mit frischem Kopf schau ich dann vielleicht sogar nochmal in die Wahlprogramme und prüfe: Wer setzt sich eigentlich ein für Nächstenliebe und Zusammenhalt? Wem geht es nicht nur um sich selbst, sondern um die gesamte Menschheitsfamilie? Vermutlich gibt es keine Partei, die alle meine Überzeugungen trifft, aber: Wer kommt ihnen am nächsten? Was ist für Herz und Verstand die beste Wahl?
Wenn ich das so mache, werde ich hoffentlich am Ende dieses Tages nicht nur froh sein, dass der Wahlkampf vorbei ist, sondern auch sicher sein: Ich hab nach bestem Wissen und Gewissen gewählt.