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Was wirklich zählt
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Was wirklich zählt

Ralf Schweinsberg
Ein Beitrag von Ralf Schweinsberg, Pastor der evangelisch-methodistischen Kirche in Gründau-Rothenbergen
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Meine Familie und ich haben ein schweres Jahr hinter uns – mit Bangen, Abschied nehmen und Trauern. Das war oft hart. Aber gleichzeitig auch sehr besonders, weil wir uns in manchen Momenten näher waren als je zuvor und manches noch tiefer und ehrlicher war.

Diagnose ohne Aussicht auf Heilung

Im Februar letzten Jahres wurde bei meiner Frau ein Hirntumor festgestellt. Schnell war klar: Es gibt keine Aussicht auf Heilung. Vor ihr lag ein schwerer Weg. Sieben Monate haben meine drei erwachsenen Kinder und ich sie auf diesem Weg begleitet. Wir haben immer schon viel und offen über das Thema Sterben und Tod gesprochen, denn meine Frau war selbst Krankenschwester in einem Hospiz. Doch als sie krank wurde, haben sich unsere Gespräche noch einmal verändert und auch unsere Sicht und unser Umgang mit diesem heiklen Thema. Im September ist meine Frau verstorben. Wir alle vermissen sie und trauern seitdem.

Jeder verarbeitet Trauer und Schmerz anders: Die jüngste Tocher mit Social Media Posts

Aber es ist ganz unterschiedlich, wie wir unsere persönliche Trauer und den Schmerz des Abschieds verarbeiten. Meiner jüngsten Tochter Debora zum Beispiel hilft der Austausch auf Social Media. Sie hat einen Beitrag auf Instagram dazu gemacht. Davon will ich erzählen: Als Handstand-Trainerin postet sie seit über zwei Jahren jeden Tag ein Video davon, wie sie einen Handstand macht, immer an anderen Orten. So auch an Weihnachten 2023, also vor etwas über einem Jahr. Meine Frau hatte als Krankenschwester über die Feiertage Dienst. Ganz ohne sie Weihnachten zu feiern, fanden wir alle blöd. Kurzerhand lud sie uns ein, den Weihnachtskaffee zu ihr ins Hospiz zu verlegen. Auf der Dachterrasse des Hospiz mit herrlicher Aussicht auf Gelnhausen, wollte meine Tochter ihre tägliches Video von einem Handstand aufnehmen.

Ich hielt das Handy und startete die Videoaufnahme. Meine Frau stand hinter mir. Sie war zwar nicht im Bild, aber akustisch bestens zu verstehen. So zeichnete das Handy nebenbei ihre Stimme auf. Sie erklärte, dass einige Menschen ihre Zeit im Hospiz sogar richtig genießen. Sie sagte: „Dieses entspannte Hiersein, nichts mehr tun zu müssen, alles geregelt zu haben. Nur noch den Tag nehmen, wie er ist.“ Der Fokus liegt ganz auf dem Moment, auf den kleinen Dingen, die oft im Alltag untergehen.

„Meine Mama erzählt, wie Patienten im Hospiz in Frieden sterben. Einen Monat später wird das auch ihre Realität.“

Erst Monate später, als meine Frau bereits gestorben war, hat Debora dieses Video veröffentlicht1. Sie schreibt dazu: „Meine Mama erzählt, wie Patienten im Hospiz in Frieden sterben. Einen Monat später wird das auch ihre Realität.“ Debora ergänzt das Video noch um die Geschichte ihrer Mutter. Sie erzählt, wie ihre Mutter sich über jeden Besuch freute, über jedes zubereitete Essen, und darüber, dass sie sich nicht mehr um den Alltag kümmern musste, sondern und einfach in der Ruhe des Moments aufgehen konnte. Debora sagt: Ihre Mutter hat ihr gezeigt, dass es im Leben nicht darum geht, alles unter Kontrolle zu haben, sondern darum, im Moment zu sein und zu akzeptieren, was nicht zu ändern ist.

Musik 

Mehrere Millionen Menschen haben das ungewöhnliche Video auf Instagram gesehen. Sie schicken es weiter, schreiben Kommentare und tröstende Nachrichten. Das zeigt, wie ungewöhnlich, und doch auch wichtig ein so offener Umgang mit dem Thema Sterben ist. Viele Menschen beschäftigt vor allem die Frage, was im Leben noch zählt, wenn es so begrenzt wird. Ich schätze: In den letzten Lebensmonaten meiner Frau haben wir das ein Stück weit gelernt.

Dann habe ich verstanden: Nicht die Menge des Erlebten zählt, sondern jeder einzelne Moment

Vorher war es manchmal, als könnte ich immer mehr gute und schöne Erlebnissen in mein Leben packen. Dabei hat sich ein Highlight an das andere gereiht, ein Urlaub an den nächsten. Mein Leben kommt mir rückblickend manchmal vor wie ein Film, der immer schneller gelaufen ist. Mit der Erkrankung meiner Frau ist dieser Film ins Stocken geraten. Zunächst wusste ich nicht mehr weiter. Dann habe ich verstanden: es braucht einen neuen Weg um zu verstehen, dass nicht die Geschwindigkeit, oder die Menge des Erlebten zählt, sondern jeder einzelne Moment. Manchmal braucht es dazu auch einen besonderen Ort, so wie ein Hospiz. Dort habe ich entdecken, dass mein Leben zwar begrenzt, aber nicht sinnlos ist, und dass ich jeden Moment genießen darf: das Hier und Jetzt, die kleinen Dinge, die eigentlich viel größer sind, als sie auf den ersten Blick erscheinen. Und, dass die Menschen, die mit mir auf meinem Lebensweg sind, wichtiger sind, als alles andere.

Jesus nimmt sich die Zeit für sein Gegenüber und fragt: Was kann ich für dich tun?

Und auch das habe ich entdeckt: Manchmal hilft es, bewusst Abstand zu nehmen, einen Moment anzuhalten und durchzuatmen. So ist es in der Bibel beschrieben, wenn sich Jesus um Menschen in ähnlichen Situationen kümmert: Jesus geht auf die Menschen ein. Er nimmt die Menschen bewusst zur Seite, führt sie von den großen Menschenmengen weg, die ihn meist begleitet haben. Und ist dann, in diesem Moment, ganz für diesen einen Menschen da. Jesus nimmt sich die Zeit für sein Gegenüber und fragt: Was kann ich für dich tun?

Er drückt die Pausentaste: Der Alltag steht für den Moment still

Mir erscheint das geradezu wie eine Pausentaste, die Jesus hier drückt. Der Alltag steht für den Moment still, das „immer mehr“ hat Pause. Jetzt ist etwas anderes dran. Nicht mehr die vielen Menschen die Jesus umgeben zählen und die scheinbar so wichtigen Aufgaben. Stattdessen ist da ein Mensch, eine Situation, die seine ganze Aufmerksamkeit braucht. Jesus nimmt diesen Menschen, geht mit ihm aus dem Blickfeld der vielen und stellt ihm die persönliche Frage: Was kann ich für dich tun? Was brauchst du gerade wirklich? Dieser Moment, das Hier und Jetzt, nur das zählt. Das ist jetzt wichtig.

Was ist jetzt, in diesem Moment für mein Leben wichtig?

Ich bin fasziniert. Ich frage mich, woran ich erkennen kann, was jetzt, in diesem Moment für mein Leben wichtig ist und wann andere Dinge Pause haben dürfen.

Musik

Innehalten, den Moment entdecken, ganz im Hier und Jetzt leben. Mir fällt das schwer. Ich habe oft das Gefühl, das ich keine Zeit habe. Das ich weiter muss, dass ich ansonsten so vieles andere verpasse. Darum komme ich gar nicht auf die Idee, anzuhalten.

Wie soll man mit dieser erzwungenen Pause umgehen?

Die Erkrankung und der Tod meiner Frau, hat mich zur Pause gezwungen. Da aber hatte ich den Eindruck, dass da jemand anderes die Pausentaste gedrückt hat, jemand, der nicht dazu berechtigt war. Das hat mich zuerst wütend gemacht. Aber dann wurde mir klar: Ich kann in diesem Ärger verweilen. Oder ich mache mich auf die Suche nach dem, was mein Leben jetzt, in dieser Situation, reich macht. Zum Beispiel: liebewolle Erinnerungen an meine Frau.

Alles eine Frage des Blickwinkels?: Die Kunst das Positive im Jetzt zu sehen

Vor ein paar Tagen hat meine Tochter Debora einen weiteren Beitrag auf Instagram gepostet. Darin erzählt sie von einem Abend am Bett ihrer Mutter. Ihre Mutter hatte gerade Post von einer früheren Klassenkameradin erhalten. Diese war auf großer Reise, rund um die ganze Welt. Die Bilder waren spektakulär. Debora fragte ihre Mutter, ob sie auch gerne so eine Reise um die Welt gemacht hätte. Ihre Mutter dachte einen Moment nach und fing dann an zu lachen. Sie sagte: „Nein, Debora. Schau, was meine Freundin dazu geschrieben hat.“ Die Freundin hatte immer Angst, etwas zu verpassen, dabei wollte sie noch so vieles auf der Welt sehen. Jetzt flog sie von Land zu Land, besuchte unzählige Sehenswürdigkeiten und machte spektakuläre Fotos. Aber sie hatte auch geschrieben, wie ihr der Stress dieser ganzen Reise zu schaffen macht. Wenn sie nicht alles fotografieren würde, dann hätte sie morgen schon wieder vergessen, wo sie gestern war.

"Jetzt ist was anderes dran. Und ich bin ich glücklich, in diesem Moment. Mit dir an meiner Seite.“

Debora beobachtete ihre Mutter und die Frage lag unausgesprochen in der Luft: Wer ist jetzt eigentlich glücklicher? Diese Bekannte, die durch die ganze Welt reist, oder sie, die nicht mehr das Bett verlassen kann, aber umgeben ist von ihrer Familie. Langsam schüttelte ihre Mutter den Kopf: „Nein, Debora, ich vermisse nichts. Sicher, ich hätte gerne noch so manches gesehen. Aber das geht jetzt nicht mehr. Jetzt ist was anderes dran. Und ich bin ich glücklich, in diesem Moment. Mit dir an meiner Seite.“

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1 https://www.instagram.com/reel/DEc3DzvtdWf/?igsh=OW94NGFkYnN6Z3Zz

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