
Ein Tropfen auf den heißen Stein?
Ich sitze in einem von Neonlampen beleuchteten Essensraum, werde von Moskitos zerstochen und versuche irgendwie mit der Hitze und dem scharfen Essen klarzukommen. Trotzdem bin ich ziemlich zufrieden. Der Essensraum befindet sich im Hostel auf dem Schulgelände der Loyola Academy am Stadtrand von Chennai im indischen Bundesstaat Tamil Nadu. In diesem Bundesstaat hat Pfarrer Diedrich, der ehemalige Pfarrer der Kassler Innenstadtpfarrei St. Bonifatius, vor über 40 Jahren begonnen, Kindern aus armen Familien Bildung zu ermöglichen. Zunächst wurden ganze Kinderdörfer gebaut, später kam noch eine Schule hinzu, die vom Orden der Jesuiten betrieben wird, die Loyola Academy. Ermöglicht wurde all dieses Engagement durch unzählige Spender in ganz Deutschland, die über alle Jahre Pfarrer Diedrich unterstützt haben. Der Verein St. Boniface Anbaham leistet bis heute einen großen Beitrag dabei, dass Hunderte Kinder pro Jahr einen guten Start ins Leben bekommen. Ich gehöre zum Vorstand des Vereines.
Ein Kinderdorf für die Ärmsten der Armen
Daher bin ich jedes Jahr einmal dort, um mich von den Fortschritten zu überzeugen und den Herausforderungen zu begegnen, die sich immer neu ergeben. Zum Abschluss der Reise haben mich die Kinder und die Jesuiten zum Abendessen eingeladen. Ich schaue in die Gesichter von 60 Mädchen und Jungen, die während der Schulzeit komplett im Hostel auf dem Schulgelände wohnen. Manche sind Waisen, manche Halbwaisen, viele haben noch beide Eltern, doch alle haben gemeinsam, dass ihre Eltern so arm sind, dass sie noch nicht einmal genug zu essen haben, geschweige denn genug Geld für die Schulgebühren. Unser Verein macht es möglich, dass die Kinder trotzdem Schulbildung bekommen, um so ihr Leben nachhaltig zu verbessern. Ich kann in diesem Moment nicht anders, als glücklich und zufrieden zu sein, auch wenn mich gerade die Moskitos beißen.
Mach es wie Petrus und vertraue
Heute Morgen hören in allen katholischen Gottesdiensten die Kirchgänger einen Ausschnitt aus dem Lukasevangelium, der sehr bekannt ist: Das Gleichnis vom wunderbaren Fischfang. Petrus und seine Mitarbeiter haben die ganze Nacht gefischt und nichts gefangen. Da begegnet ihnen Jesus und er fordert sie auf, noch einmal rauszufahren und es zu versuchen. Trotz seines Wissens und seiner Erfahrung als Fischer fragt Petrus noch nicht einmal nach, zweifelt nicht, sondern fährt hinaus auf den See und fängt so viele Fische, dass er und seine Mannschaft die Netze nur mit tatkräftiger Hilfe an Land ziehen können. Diesen Abschnitt, diese Perikope aus dem Lukasevangelium kann man in verschiedener Hinsicht deuten. Zum Beispiel dahingehend, dass ich Jesus vertrauen muss, damit meine Vorhaben einen guten Ausgang nehmen. Mir ist in meinen Tagen in Indien noch ein anderer Gedanke dazu gekommen.
Musik
In unseren Sitzungen mit den Leitern der Kinderdörfer und der Schule ist uns immer wieder vor Augen geführt worden, dass die Arbeit für NGOs und kirchliche Träger schwieriger wird. Seit Premierminister Narendra Modi an der Macht ist, wandelt sich die Politik in Indien. Der Staat versucht zwar, selbst für Bildung zu sorgen und viel Grundlegendes im Land zu verbessern, gleichzeitig schottet man sich aber auch ab. Gerade Hilfsorganisationen haben es immer schwerer. Gelder werden eingefroren, Lizenzen nicht oder nur nach hohen Auflagen erteilt. Hindus werden gefördert und Muslime und Christen benachteiligt. Diese Bewegung ist noch am Anfang und wenn man an die Zukunft denkt, dann wird es einem manchmal mulmig. Bei jedem unserer Besuche wird das immer mehr zum Thema. Bisher haben wir immer noch ungehindert unsere Arbeit tun können, aber manchmal komme ich schon ins Zweifeln.
Das Engagement bekommt Risse
Am Ende des Abendessens gibt es noch eine kleine Fragerunde, bei der die Kinder uns mit ihren Fragen löchern können. Ein Mädchen, vielleicht 10 Jahre alt, fragt mich, wie das mit Adolf Hitler und dem Zweiten Weltkrieg war. Das Mädchen gehört zum Stamm der Schlangenfänger, der Irular, einem der vielen Stämme in Indien, die noch weit unter dem Kastensystem leben. Zwar gibt es schon lange Gesetze in Indien, die die Diskriminierung der Stämme verbieten, aber daran hält sich niemand. Angehörige dieser Volksgruppen sind heute noch weniger wert als die Dhalits, die zu der niedrigsten Kaste gehören. Sie leben in großer Armut und ihre Chancen, an Bildung zu kommen, ist in Indien verschwindend gering. Und nun sitzt dieses Mädchen im Schneidersitz vor mir und bittet mich auf Englisch, ihr zu erklären, wie es zu der dunkelsten Zeit in der deutschen Geschichte gekommen ist.
Diese Bitte ist ein sehr gutes Beispiel, das zeigt, wie wertvoll unser Engagement ist. Es wäre durchaus möglich, dass ohne unsere Hilfe dieses Mädchen bis heute nicht einmal schreiben und lesen könnte oder von Geschichte eine Ahnung hätte. Ihre Zukunft wäre düster: Sie würde wahrscheinlich in ein paar Jahren verheiratet werden und dann in bitterer Armut darauf hoffen, ein bisschen Reis als Spende von örtlichen Supermärkten zu bekommen. Ihr Mann könnte gar nicht so viele Schlangen aus den Gärten und Häusern der Bessergestellten fangen, dass es zum Leben reicht. Ihre Kinder würden dann in die gleiche Zukunft blicken, auch wenn die Gesetzeslage in Indien etwas anderes besagt.
Musik
Wenn schon die bestehende Gesetzeslage nicht zum Tragen kommt und sich die Regierung von Indien zunehmend den Hindus zuwendet und gegen andere Gruppen und Religionen, stehen eigentlich alle Vorzeichen gegen Menschen wie dieses Mädchen. Gleichzeitig müssen auch wir als deutscher Verein genauer hinschauen und gegebenenfalls die Art unserer Unterstützung ändern.
Mir wird es, wenn ich an die Zukunft denke, manchmal mulmig. Ich sehe die Gefahr, dass es unmöglich werden könnte, unsere Arbeit noch erfolgreich zu tun. Ein bisschen erinnert mich das an diesen Petrus, der nach einer Nacht harter Arbeit nun am Ufer des Sees von Genezareth seine Netze wäscht. Dann kommt Jesus und Petrus versucht es noch einmal. Obwohl er weiß, dass die Fische nur in der Nacht an der Oberfläche sind und er sie fangen kann. Obwohl er als Fischer weiß, dass alle Vorzeichen gegen ihn stehen, legt er noch einmal ab.
Das Unmögliche trotz allem versuchen
Für mich persönlich ist es nicht nur ein Bild, dass ich Jesus vertrauen muss. Für mich ist es vor allem ein Zeichen, dass es um Hoffnung geht. Denn Petrus kannte diesen Jesus nicht. Er wusste nicht, dass er vor dem Messias stand. Für ihn war Jesus nur ein Fremder. Aber dieser Fremde machte ihm Hoffnung. Jesus hat es verstanden, Petrus so zu motivieren, dass er gegen alles Wissen oder gegen jede Erfahrung das Unmögliche versuchte. Und es zahlte sich aus. Jesus macht Hoffnung, auch die Dinge zu versuchen, die nicht immer von vornherein Erfolg versprechen.
In meinem Leben ist das auch so. Immer wieder versuche ich das Wirken Gottes in dieser Welt und in meinem Leben zu entdecken. Jedes Mal, wenn es mir gelingt, eine Spur göttlichen Wirkens in dieser Welt zu erahnen, bekomme ich neuen Mut. Es gibt mir Kraft, auch auf den Wegen zu gehen, die mir eigentlich etwas zu unsicher erscheinen. Solange ich das Gute im Blick habe und mich von Gott motivieren lasse, bekomme ich sogar Lust dazu.
Dieser Weg braucht Mut
Das Mädchen vom Stamm der Schlangenfänger hat diesen Mut auch. Sie weiß in ihren jungen Jahren schon, dass sie etwas geschenkt bekommen hat, aber das dieses Geschenk noch lange nicht das Ende ihres Weges ist. Dazu gehört noch eine weitere gehörige Portion Mut. Sie hat sich ehrgeizige Ziele gesetzt und will Beamtin werden. Dafür wird sie sich noch so manches Mal durchsetzen müssen. Sie wird auch Rückschläge erleben und manchmal wird sie dann all ihren Mut brauchen, um wieder aufzustehen. Ich hoffe, dass sie dann im Glauben, bei Freunden und Familie dazu Motivation findet.
Für mich bedeuten alle Gesichter der Kinder, die an dem Abend in dem Essensraum sitzen, dass wir genau auf dem richtigen Weg sind. Auch der wird sicher in den nächsten Jahren nicht einfacher werden. Auch er wird mal Rückschläge für uns bereithalten. Aber er ist wichtig. Er hat das Potential, damit sich etwas ändert - in Indien.
Auf dem Rückweg vom Hostel zu unserem Taxi unterhalte ich mich mit den Jesuiten. Es geht um die Vergrößerung des gesamten Gebäudes, um noch mehr Kinder aufnehmen zu können. Ich habe kein mulmiges Gefühl im Bauch, ich habe Lust noch mehr zu tun und ich weiß, dass sich all dieses Engagement auch auszahlen wird.