Einen Faden verwahren
An meinem Pulli hängt ein Faden heraus. Das stört mich. Soll ich ihn abschneiden? Ich hab’s eilig. Lieber nicht. Dann geht vielleicht noch mehr kaputt und ein großes Loch entsteht.
Einen heraushängenden Faden nicht abschneiden, sondern verwahren
Meine Mutter hat mir beigebracht, was ich in so einem Fall machen kann. Wie man einen Faden verwahrt: mit einer Nadel den Faden ganz vorsichtig wieder ins Gewebe einfädelt. So bleibt das Kleidungsstück heil und schön. Jetzt gerade habe ich keine Zeit dafür und lasse den Faden hängen. Immer wieder über den Tag fällt mein Blick darauf: Da ist definitiv was zerrissen. Aber ich hab den Faden nicht abgeschnitten, weil ich mich an Mama erinnert hab.
Auch einen gerissenen Geduldsfaden kann man wieder zusammenfügen
Meine Mutter hat nicht nur bei Kleidern den Faden verwahrt. Sie hat mir in kleinen und großen Dingen geholfen, nicht schnell aufzugeben. Sie hat mir beigebracht mit etwas Geduld Dinge wieder heil zu machen. Sie hat mich bei schlechten Noten wiederaufgebaut. Wenn mir beim Klavierüben der Geduldsfaden gerissen ist, hat sie die Lage gerettet. Oder noch wichtiger: Wenn ich Liebeskummer hatte und dachte, jetzt ist wirklich was in mir zerrissen, dann hat sie mich getröstet und mir gezeigt, dass nicht alles kaputt ist.
Manches lässt sich retten
Meine Mutter hat mir beigebracht: Mein Leben ist in Liebe bewahrt. Und manches lässt sich retten. Darum nehme ich mir am Abend einen Moment Zeit und verwahre den Faden am Pullover, so wie ich es von meiner Mutter gelernt habe.