
Die Würde der Lebenden und der Toten
Jeder Mensch ist mit einer Würde ausgestattet, die unantastbar ist. Aber was genau das bedeutet – Würde – darüber streiten Menschen. Kein Wunder: der Begriff ist abstrakt. Für mich hat Würde vor allem mit einer Haltung im Leben zu tun, damit, wie ich Menschen begegne. Möglichst so, dass ich ihre Würde achte.
Die Bedeutung der Würde
Umso erstaunter war ich über einen Satz des Schriftstellers und Philosophen Navid Kermani. Er schreibt: „Mir selbst wurde erst klar, was Würde bedeutet, als ich meinen Vater nach seinem Tod gewaschen habe.“[1]
Kermani begeht die traditionelle muslimische Totenwaschung zusammen mit seinem Bruder und einem Bestatter. Der weist die beiden Söhne an, was zu tun ist. Er betet und singt. Und er salbt den Körper des Vaters mit duftendem Öl.
Da erlebt Kermani, was Würde ist. Der Bestatter behandelt den Verstorbenen achtsam und umsorgt seinen toten Körper. Das ist eigentlich nicht mehr nötig. Das Öl, die Zuwendung - das hat keinen Nutzen, es dient keinem Zweck. Aber es ist menschlich. Es zeigt: Der Verstorbene ist und bleibt ein Mensch. Und ein Mensch trägt Würde – auch nach seinem Tod.
Die Würde der Toten
Dass Menschen, auch wenn sie sterben, wertvoll bleiben, ist eine uralte Vorstellung. Schon seit frühester Zeit verabschieden Menschen ihre Toten, gedenken ihrer und bestatten sie. Wo und wie das geschieht, unterscheidet sich je nach Religion und Kultur. Aber alle teilen die Vorstellung: Auch nach dem Tod bleibt der Mensch etwas besonders.
Gottes Versprechen: Du gehörst zu mir
Bei christlichen Beerdigungen sprechen Pfarrerinnen und Pfarrer manchmal einen Satz aus der Bibel, in dem diese Vorstellung zum Ausdruck kommt. Er lautet: „Denk daran: Ich habe dich geschaffen. Du gehörst zu mir, darum werde ich dich nie vergessen.“ (Jesaja 44,21)
Ich stelle mir vor: Gott kennt jeden Menschen von Anfang an, hat ihn gemacht mit einer je eigenen Persönlichkeit. So ist jeder Mensch von Anfang an mit Gott verbunden. Im Leben – und darüber hinaus. Auch im Tod gilt Gottes Versprechen: „Du gehörst zu mir.“ Für Gott hat so jeder Mensch einen Wert, eine Würde: die Lebenden und die Toten.
Den von Gott geschenkten Wert kann keiner nehmen
Mich tröstet diese Vorstellung. Besonders dann, wenn Menschen unter unmenschlichen Bedingungen oder gar nicht bestattet werden. Das ist würdelos. Aber den von Gott geschenkten Wert kann ihnen kein Mensch nehmen.
Ich finde es heilsam, dass Menschen diesen Glauben zum Ausdruck bringen. Dass sie den Wert und die Würde eines anderen erfahrbar machen. Indem sie waschen und salben, anderen achtsam und respektvoll begegnen. Sich Menschen freundlich zuwenden, im Tod – und auch schon im Leben.
[1] Vgl. www.zeit.de/2024/25/menschenwuerde-tod-krieg-voelkermord-grundgesetz