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Schicksalstag der Deutschen
picture alliance/dpa | Jörg Carstensen

Schicksalstag der Deutschen

Dr. Matthias Viertel
Ein Beitrag von Dr. Matthias Viertel, Evangelischer Pfarrer, Kassel
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Genau 35 Jahre ist es her: am Abend des 9. November wurden in dem damals noch zweigeteilten Berlin die Grenzübergänge in den Westen geöffnet. Es war der erste Schritt zur Wiedervereinigung.

Überschäumende Freude über gefallene Grenzen

Ich erinnere mich gut an diesen Abend. Das Fernsehen übertrug live aus Berlin: Bilder von überschäumender Begeisterung, überall Menschen, die sich in die Arme fielen, sogar solche, die sich gar nicht kannten. Am nächsten Tag luden wir Freunde und Nachbarn ein, weil wir diese Freude über die fallende Grenze mitfeiern wollten.

Beginn eines Massenmordes ungeahnten Ausmaßes

Noch weiter zurück liegt das andere Ereignis, das dieses Datum markiert: Am 9. November 1938 begann die Reichspogromnacht, jene grauenhafte Nacht mit ihren Gewaltexzessen gegen jüdische Mitmenschen. Horden zogen ungehindert durch die Straßen, zündeten Synagogen an, schlugen Schaufenster jüdischer Geschäfte ein. Ein Massenmord ungeahnten Ausmaßes wurde damit eingeleitet. Ein Ereignis, das bis heute nachwirkt und die besondere Verantwortung Deutschlands für Jüdinnen und Juden erklärt.

Der 9. November: "Schicksalstag der Deutschen"

Zwei Ereignisse, die den 9. November zu einem besonderen Datum machen. Vom „Schicksalstag der Deutschen“ ist deshalb immer wieder die Rede, wohl nicht zu Unrecht. Zwei Ereignisse, die in ihrer Gefühlswirkung nicht gegensätzlicher sein könnten. Auf der einen Seite hoffnungsvoller Jubel über das Miteinander; auf der anderen Seite Hass und Abgrenzung.

Hass und Abgrenzung sind immer noch da

Diese Spannung, die sich auf das Datum des 9. Novembers legt, ist für mich kaum auszuhalten. Hier das Gefühl von Freiheit, die DDR-Diktatur überwunden. Und dort der Hass, der ungebremste Antisemitismus. Das erschreckende: Auch nach so langer Zeit ist die Grenze zwischen Ost und West noch nicht ganz überwunden. Und noch immer ist unsere Demokratie gefährdet. Hass und Abgrenzung sind nicht nur historische Probleme. Wieder sind es antisemitische Parolen und Fremdenfeindlichkeit, die Hass auf den Straßen säen und bis in die Parlamente tragen.

Höhepunkte und Abgründe liegen dicht beieinander

Wie dicht liegen Höhepunkte und Abgründe nebeneinander, die Hoffnung und das Elend. Ich sehe auf der einen Seite die Bilder des Pogroms, auf der anderen Seite die Courage. Und Ich weiß: Menschen sind zu beidem fähig. Diese Spannung muss ich wohl oder übel aushalten.

Gedenktag der Evangelischen Kirche

Aus diesen Gründen hat die Evangelische Kirche den 9. November als Gedenktag aufgenommen. Für Gottesdienste, die heute gefeiert werden, ist als biblischer Text ein Satz aus dem, 1 Petrusbrief vorgeschlagen: „Seid nüchtern und wachsam!“ (1 Petrus 5, 8-9)

„Seid nüchtern und wachsam!“

Dieser Apell ist wichtig. Für mich ein Signal, das meine Verbundenheit mit jüdischen Mitmenschen prägt; und eine Warnung, die für meinen Umgang mit Fremden wegweisend ist. Und wenn ich die besondere Ambivalenz dieses Datums bedenke, kommt beides darin vor: Sei wachsam gegen Diskriminierung und Ausgrenzung! Und ich ergänze: freue dich zugleich über alles, was Mut macht.

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