
Magische Reiseapotheke
Im Westfälischen Münster gibt es ein kleines, aber feines Bibelmuseum. Es umfasst nur einen einzigen Raum. Darin sind einige seltene Kostbarkeiten ausgestellt, wie alte Handschriften, frühe Bibeldrucke und sakrale Kultgegenstände. Als ich mir die Vitrinen betrachtet habe, sind mir zwei Pergamentstreifen besonders ins Auge gefallen. Sie sind ca. 15 cm breit und 1,70 lang. Das Museum hat sie als „Äthiopische Zauberrollen“ aus dem 19. Jahrhundert ausgewiesen. Das hat mich neugierig gemacht, und ich hab’ deswegen genauer hingeguckt. Auf den entrollten Streifen waren äthiopische Schriftzeichen und ausgemalte Amulette zu sehen. Die Schrift heißt Ge’ez und ist Altäthiopisch und wird heute noch im Gottesdienst der äthiopischen Kirche verwendet.
Wer unterwegs erkrankt, legt sich den Streifen auf den Körper
In dieser Sprache wurden fromme Gebete, Beschwörungsformeln und Legenden auf diese Rollen aufgeschrieben. Die Schrift zusammen mit den ausgemalten Amuletten dienten der Abwehr von allem Unheil, von Krankheitsdämonen oder vom bösen Blick. Die Länge der Rolle entspricht der individuellen Größe der Person, für die sie gemacht wird. Man kann sie im Haus aufhängen oder zusammenrollen, in einem Etui verstauen, um den Hals hängen und auf der Reise bei sich tragen. Wenn man unterwegs erkrankt, entrollt man die Streifen der Länge nach auf dem Körper. Ein äthiopischer Freund hat mir bestätigt: Auch heute noch werden sie von eigens dafür beauftragten Personen, den Dabtaras, gelegentlich angefertigt.
Vertrauen in die gesegneten Schrift- und Bildzeichen
Auch wenn ich lieber den Medikamenten und Pflastern meiner Reiseapotheke vertraue: Es ist faszinierend, wie groß das Vertrauen in die Wirksamkeit heiliger Schrift- und Bildzeichen ist. Daran glaubte man im ganzen Mittelmeerraum. Man hält sie für numinos aufgeladen. Die Rollen sind in einer religiösen Umgebung gemacht, in religiöser Sprache verfasst, enthalten religiöse Bildsymbole, und sie werden gesegnet. Somit sind sie aus der Sphäre des profanen Alltags herausgehoben.
Die Zauberrollen vereinen heidnische mit christlichen Elementen
Magische Praktiken gründen in der Vorstellung, dass man durch selbst gemachte Mittel wie Beschwörungen und Talismane das Unverfügbare, das Transzendente - und damit das persönliche Schicksal - direkt beeinflussen könne. Daraus spricht wohl ein Urbedürfnis nach Resonanz. Die Bibel kritisiert immer wieder den Rückfall in solche heidnischen Verhältnisse in Krisenzeiten. Sie klärt darüber auf, dass magische Praktiken Götzendienst sind. Sie haben mit dem biblischen Glauben an den einen unsichtbaren Gott nichts zu tun. In den Zauberrollen sind antike heidnische Elemente mit dem christlichen Glauben vereinigt.
Wenn ich mir das Kreuz umhänge, fühle ich mich beschützt
Auch bei uns tragen viele Menschen kleine Talismane und Glücksbringer. Kreuze, Anker, Kleeblätter usw. Ich habe eine klammheimliche Sympathie für die kleinen Zaubereien des Alltags und hänge mir gerne das schöne Kreuz um, das mein Mann mir zu einem besonderen Anlass geschenkt hat. Dann fühle ich mich irgendwie beschützt.