
Erfahrungen in der Wüste
Es war damals auf einer Jordanienreise: Ich stand nachts mitten in der leeren Wüste und dachte nur: Was für ein fantastischer Sternenhimmel!
Auch die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann hatte Sehnsucht nach einer Wüstenerfahrung. Nach der Trennung von Max Frisch ist sie in eine tiefe Krise geraten. Und als sie plötzlich die Möglichkeit bekam, eine längere Wüstenreise zu unternehmen, hat sie sofort zugesagt. Denn sie hoffte, dort Erholung zu finden und sich neu zu sortieren.
Viele Propheten haben sich in die Wüste zurückgezogen
Von alters her ist die Wüste als etwas Besonderes empfunden worden: Ein unwirtlicher Schreckensort für die Verbannten, aber auch ein Ort der Offenbarung, an dem Gott Mose begegnet ist. Viele Propheten haben sich in die Wüste zurückgezogen – oder haben dort auch zu den Menschen gepredigt, wie Johannes der Täufer. Er hat sich ein Gewand aus Kamelhaaren angezogen und sich von wildem Honig und Heuschrecken ernährt (vgl. Markus-Evangelium 1,6). Das fand ich als Kind immer hochgradig spannend. Heute weiß ich: Diese Reduktion auf das Lebensnotwendigste soll anzeigen, wie sehr sich dieser Johannes der Täufer auf das Wesentliche konzentrieren wollte. Das machte ihn frei und unabhängig von allen Äußerlichkeiten.
In der Wüste bin ich mit meinen Gedanken allein
Immer geht es in der Wüste darum, den Alltag für eine gewisse Zeit zu verlassen. Ingeborg Bachmann hat die Wüste deswegen auch als „Purgatorium", als große Heilanstalt bezeichnet. Diese karge Landschaft ist einzig zum Schauen gemacht, obwohl sich der Wüstensand mitunter schmerzhaft auf die Augen legt. Man muss die Augen dann schließen. Und das erzwingt ein anderes, ein inneres Sehen. In der Abgeschiedenheit der Wüste bin ich mit meinen Gedanken allein. Da kann die Seele keine Faxen machen.
Jesus wollte sich in der Wüste über seine Berufung klar werden
Auch Jesus hat nach seiner Taufe am Jordan durch Johannes sein Zuhause verlassen und ist für vierzig Tage in die Wüste gegangen. Er wollte dort beten und fasten und sich über seine Berufung klar werden. Vielleicht hat er sich gefragt: Bin ich wirklich der Messias, der Sohn Gottes, den alle erwarten? Soll ich den Menschen Gott verkünden – diesen „Ich bin“-Gott, der einst schon zu Mose gesprochen hat und der für die Menschen immer und überall da ist?
Er hatte innere Kämpfe und Versuchungen zu bestehen
Und bei Jesus ging diese Selbsterkenntnis wie bei vielen anderen Menschen auch nicht reibungslos über die Bühne. Auch Jesus hatte innere Kämpfe und Versuchungen zu bestehen. Erst dann verlässt er die Wüste und tritt öffentlich in Erscheinung (vgl. Matthäus-Evangelium 4,1-11).
Die Selbsterkenntnis ist wohl ein lebenslanger Prozess
Entscheidend ist wohl die Frage: Was nehm ich aus der Wüstenzeit mit in mein Leben, welche Einsichten kann ich hinüberretten? Ingeborg Bachmann schreibt zwar, dass ihr in der Wüste das Lachen zurückgekommen sei, aber leider war das nicht von langer Dauer.
In meiner Wüstenerfahrung ist mir jedenfalls klargeworden: Das „innere Sehen“, dieses Zurückgeworfensein auf mich selbst - das hat auch viel mit einer antiken Aufforderung zu tun: Erkenne dich selbst! Damit ist es nicht nach ein paar Tagen im Wüstensand getan. Es ist wohl ein lebenslanger Prozess. „Wüste“ in diesem Sinn geht immer.
Vielleicht taucht dabei auch eine unerwartete Oase auf
Und vielleicht taucht dabei dann und wann eine schöne Oase auf, nach der ich mich gesehnt, mit der ich aber nicht gerechnet habe. Im Psalm 23 kommt diese Sehnsucht so ins Bild: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf grünen Auen und führet mich zum frischen Wasser.“ Darauf möchte ich mich gerne verlassen.