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Verletzlich
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Verletzlich

Rüdiger Kohl
Ein Beitrag von Rüdiger Kohl, Evangelischer Pfarrer, Theologischer Referent der Stellvertretenden Kirchenpräsidentin der EKHN
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„Wir alle sollten uns häufiger verletzlich zeigen.“ Das sagt der Medizinethiker Giovanni Maio. Für ihn sind Menschen nicht nur dann verletzlich, wenn sie sich schwach fühlen oder krank sind. Sondern immer, wenn sie mit anderen in Beziehungen stehen. Verletzlichkeit verbindet Menschen, sagt Maio. Deshalb fordert er eine „Ethik der Verletzlichkeit“.[1]

Sich Durchkämpfen und Stärke zeigen, gilt oft als Ideal

Diese Idee berührt mich. Denn wer gibt schon gerne zu, verletzlich zu sein? Im Gegenteil: Sich Durchkämpfen und Stärke zeigen, gilt oft als Ideal. In vielen Bereichen unseres Lebens setzen sich Menschen zum Ziel, möglichst alleine durchzukommen; anderen nicht zur Last zu fallen. Dabei sind Menschen doch immer aufeinander angewiesen.

Wir sollten unsere Verletzlichkeit teilen

Deshalb, so Giovanni Maio, sollten wir auch unsere Verletzlichkeit teilen. Uns öffnen, einander zuwenden, wirklich Anteil nehmen daran, wie es den anderen gerade geht. Für einander sorgen. Dadurch können Menschen neue Kraft gewinnen.

Verletzlich sein und dabei neue Kraft gewinnen: Das ist eine uralte Erfahrung. Der Apostel Paulus schreibt davon in der Bibel in einem Brief an die Menschen in Korinth.

Paulus erzählt, was er alles geschafft hat

Zunächst erzählt Paulus das, was er alles geschafft hat: Er hat hart gearbeitet, hat Gemeinden gegründet. Hat dafür anstrengende Reisen unternommen. Hat Schläge ertragen und Kälte und Hitze und Hunger. Alles hat er heldenhaft gemeistert. Hilfe von anderen braucht er offenbar nicht.

"Ich bin ein verletzlicher Mensch. So wie ihr auch."

Trotzdem schreibt Paulus: „Ich bin ein verletzlicher Mensch. So wie ihr auch.“ Er schreibt von Schmerzen, davon, dass er verzweifelt betet und hofft, dass Gott ihm hilft. Aber Gott spricht zu Paulus: "Meine Kraft vollendet sich in der Verletzlichkeit." (2. Korinther 12,9)

Gott sucht keine makellosen Überflieger

Paulus ist überzeugt: Gott sucht sich keine makellosen Überflieger. Gerade wenn ich mich verletzlich zeige, hören andere mir zu und sind mir nahe. So sucht sich Gottes Kraft ihre Wege in dieser Welt.

„Gottes Kraft vollendet sich in der Verletzlichkeit.“ Wie das heute aussehen kann, höre ich in einem Radiobeitrag über die Ethik der Verletzlichkeit. Da erzählt ein Mann, der seit seiner Kindheit chronisch krank ist.

Sich für seine Schwächen schämen

Er hat immer Medikamente nehmen müssen, bis heute. Das hat er auf seiner Arbeitsstelle geheim gehalten. Aus Angst, nicht mehr stark und belastbar zu erscheinen. Und weil er sich für seine Schwäche geschämt hat. Irgendwann hat er es nicht mehr ausgehalten und sich seinen Kollegen offenbart.

Die Kollegen reagieren verständnisvoll

Die Reaktionen haben ihn überrascht: Alle waren verständnisvoll. Manche haben von eigenen gesundheitlichen Problemen erzählt. Der Mann sagt: „Ich habe neues Selbstbewusstsein gewonnen. Ich bin froh, dass ich den Mut aufgebracht habe, mich verletzlich zu zeigen.“

Gott macht mich stärker, wenn ich meine Schwäche akzeptiere

Was er erlebt hat, zeigt mir: Gott macht mich stärker, gerade, wenn ich meine Schwäche akzeptiere. Deshalb kann ich dazu stehen, verletzlich zu sein. Und komme Gott und anderen Menschen näher.


[1] Giovanni Maio, Ethik der Verletzlichkeit, Freiburg 2024.

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