Schreibübung
Im Kunstunterricht musste ich mit Tusche und Feder alte Schriften lernen: Gotik oder Unzial. Wir haben einen Text abgeschrieben auf besonderes Papier, im Stil eines alten Dokuments. Ich habe mich damals für die Weihnachtsgeschichte in lateinischer Sprache entschieden. Das ist 50 Jahre her. Bis heute kann ich etliche Teile des Textes auswendig. Ich habe die Worte verinnerlicht.
Ein Roboter schreibt die Psalmen
Daran erinnere ich mich, als ich im Sommer in der Karlskirche in Kassel eine Ausstellung besuche. Mitten im Raum steht ein großer Robotergreifarm. Wie in der Fertigungshalle einer großen Automobilfabrik. Leuchtend orange, größer als ein Mensch. In seinem Greifer hält er einen Stift. Er schreibt auf einen langen Papierbogen. Strich um Strich, Buchstabe um Buchstabe. Zierlich und ganz genau. Er schreibt die Psalmen auf, alle 150 ohne Pause, Tag und Nacht.
Ein Kontrast: die große Maschine und der feine Strich
Ich staune. Es ist der Kontrast: Die große Maschine und diese feinen Striche und Punkte. So exakt schafft das kein Mensch. Das kann ich nur bestätigen. Trotz Konzentration habe ich damals Buchstaben vergessen oder es tropfte ein Klecks Tinte aufs Papier.
Aber ich erinnere mich noch genau an die konzentrierte Stille im Zeichensaal. Durch das intensive Schreiben sind mir die Worte wie einprogrammiert. Ich kann sie wie ein Roboter abrufen, ohne groß nachzudenken. Sie liegen in meinem persönlichen Speicher. So wie viele andere Texte, die mir inzwischen in Fleisch und Blut übergegangen sind.
Das Gedächtnis nimmt Inhalte anders auf, wenn ich sie mit der Hand schreibe
Um den Speicher zu füllen, ist die Verbindung zwischen Hand und Gehirn ein wichtiger Baustein. Neurowissenschaftler haben viel über den Zusammenhang von Handschrift, Denken und Kreativität geforscht. Es regt meine Gedanken an, wenn ich mit der Hand etwas notiere. Es kommen dabei neue Ideen auf. Die Kreativität wird gefördert. Und das Gedächtnis nimmt Inhalte anders auf, wenn ich sie mit der Hand schreibe.
Worte des Lebens – sie sind und bleiben ein Teil von uns allen
Es ist also umgekehrt wie bei dem Schreibroboter. Dem wird ein Programm installiert und das spult er ab und schreibt. Und ich schreibe und verinnerliche dabei, was ich schreibe und dabei denke. Und so entsteht in mir das Programm meines Lebens. Gut gespeichert. Worte des Lebens für mich. Das muss nicht immer geschrieben sein. Ein guter Gedanke, ein Gedicht oder auch ein Bibelwort, das mir wichtig ist. Aufmerksam wahrnehmen, auch mehrmals lesen. Weiterdenken und vielleicht auch mal aufschreiben. Worte des Lebens – sie sind und bleiben ein Teil von uns allen. So verschieden sie auch sein mögen. Sie füllen den persönlichen Speicher. Aus dem können wir schöpfen bis ans Ende unserer Tage.