Tagträumen mit Hanns-guck-in-die-Luft
„Hanns-guck-in-die-Luft“ ist eine Figur aus dem Struwwelpeter, dem bekannten Kinderbuch von dem Frankfurter Arzt und Psychiater Heinrich Hoffmann. Dieser Hanns ist ein großer Träumer. Im Struwwelpeter heißt es über ihn: „Wenn der Hanns zur Schule ging / Stets sein Blick am Himmel hing. / Nach den Dächern, Wolken, Schwalben / Schaut er aufwärts, allenthalben: / Vor die eignen Füße dicht, / Ja, da sah der Bursche nicht, / Also daß ein jeder ruft: / „Seht den Hanns Guck-in-die-Luft!“ Die Geschichte geht natürlich wie alle im Struwwelpeter nicht gut aus. Am Ende landet Hanns-guck-in-die-Luft im Wasser, wo ihm die Schulmappe davon schwimmt.
Das Tagträumen möchte ich mir nicht nehmen lassen
Mit den Figuren im Struwwelpeter habe ich schon als Kind immer Mitleid gehabt: Ich finde, sie werden unfair hart bestraft. So ist es auch mit dem Hanns-guck-in-die-Luft. Ich glaube, er ist ein Kind, das das Tagträumen für sich entdeckt hat, und das Tagträumen möchte ich mir nicht nehmen lassen.
Irgendwo in der Luft eine andere Welt entdecken
„In‘s Narrenkastl schauen“, so sagt man in Wien für jemanden, der beim Tagträumen geistesabwesend vor sich hin starrt. Das klingt schon freundlicher. Tagträumen ist so, als wenn man irgendwo in der Luft eine andere Welt entdeckt hat und nicht in derjenigen ist, in der man mit beiden Füßen auf dem Boden steht.
Natürlich braucht es auch Bodenhaftung
Natürlich: Es braucht im Leben Bodenhaftung mit der Wirklichkeit. Wenn ich im Supermarkt gedankenverloren in der Schlange stehe, während meine Vorderleute schon fünf Meter weitergegangen sind, dann ist es gut, dass mich jemand in die Realität zurückholt und mir sagt: „Hej, trödeln Sie hier nicht herum!“
Eine Träumerei zeigt mit neue Perspektiven
Mit Tagträumen allein kann ich mein Leben nicht bewältigen. Eine Träumerei kann meinen Alltag aber auch in ein neues Licht rücken. Sie zeigt mir eine neue Perspektive, so wie es von Narren oft erzählt wird, etwa vom Till Eulenspiegel, der gesagt hat: Für mich ist das Bergauf-Gehen schön, weil ich mich dabei schon auf das Bergab-Gehen freue. In eine Welt zu schauen, in der mich nicht die Schwerkraft nach unten zieht, sondern alles federleicht zwischen Himmel und Erde schwebt, das macht meinen Alltag leichter.
Tagträume sind Augenblicke, die zweckfrei sind
Vor allem eines ist mir am Tagträumen wichtig: Dabei muss ich nicht funktionieren. Tagträume sind Augenblicke, die zweckfrei sind, in denen ich das Leben einfach lebe, ohne dabei schon für etwas Anderes da sein zu müssen. Dabei denke ich nicht schon wieder an den nächsten Schritt. Das kann ich gar nicht, denn dann würde ich wie Hanns-guck-in-die-Luft ins Wasser fallen. Mir sind solche Tagträume im Alltag wichtig. Am besten so, dass ich mir bewusst Zeit dafür nehme, an einem ruhigen Platz, in einer ungestörten Zeit, wo ich schauen und in die Weite träumen kann. Dann kann ich wie dieser Hanns in die Luft gucken, und danach wieder leichter und dankbarer auf den Boden, auf dem ich sitze und auf dem meine Füße stehen.