Ich war ein Fremdling
An einem heißen Sommernachmittag saß ich auf dem Königsplatz in Kassel: An der Brunnenanlage liefen kleine Kinder mit dunklen Haaren nur mit einer Sporthose bekleidet unter den Wasserstrahlen durch. Ihre Mütter standen mit Kopftüchern bekleidet nur ein paar Meter weiter. Daneben hat ein Hund mit der Wasserfontäne gespielt, er sprang immer wieder mit offenem Maul um sie herum und hat versucht, sie einzufangen. Sein Besitzer stand daneben und amüsierte sich. Ein paar Studenten diskutierten engagiert miteinander, während sie mit Laptoptaschen den Platz querten. Orientalisch ausschauende Familien haben in der Sonne an ihrem Eis geschleckt; andere haben einen Schattenplatz aufgesucht und auf eine Straßenbahn gewartet.
Friedliches Miteinander auf dem sommerlichen Königsplatz
Ich habe mich über das friedliche Leben auf dem Platz gefreut. Ich dachte mir: So kann Deutschland sein, wenn es gut geht. Menschen aus unterschiedlichen Kulturen, zum Teil hier aufgewachsen, zum Teil ursprünglich aus fernen Ländern, alle freuen sich friedlich über diesen Sommertag.
Ich war fremd, und ihr habt mich beherbergt
Nur wenige Gehminuten vom Königsplatz in Kassel entfernt, in der Treppenstraße, steht ein moderner Obelisk von dem nigerianischen Künstler Olu Oguibe. Er ist 2017 zur documenta 14 errichtet worden und in Kassel geblieben. Auf den vier Seiten steht in den vier Sprachen Türkisch, Arabisch, Englisch und Deutsch: „Ich war ein Fremdling, und ihr habt mich beherbergt.“ Der Satz ist aus der Bibel. Jesus spricht ihn im Matthäusevangelium (Mt 25,35). Er solidarisiert sich mit all denen, die als Fremde in einem anderen Land leben.
Deutschland wurde schon immer von vielen Kulturen geprägt
Nicht erst seit ein paar Jahrzehnten: Deutschland ist schon immer ein Land, das von vielen Kulturen geprägt wurde. Schon lange konnten dabei unzählige Menschen aus fremden Ländern friedlich hier Heimat finden. Ich habe mich lange mit der Geschichte meines Landes schwergetan. Zu heftig war, was ich seit Kindheit über die nationalsozialistische Vergangenheit meines Landes erfahren habe. Aber als ich bemerkt habe, aus wie vielen verschiedenen Ländern Menschen schon seit Jahrhunderten in diesem Land Zuflucht gefunden haben, habe ich begonnen, es zu schätzen. Die Integrationsfähigkeit Deutschlands ist ein Grund, warum ich dankbar bin, in diesem Land aufgewachsen zu sein.
Andere annehmen, gerade da, wo wir unterschiedlich sind
„Ich war ein Fremdling und ihr habt mich aufgenommen.“ So steht es auf dem Obelisken in Kassel. Es könnten noch viel mehr Sprachen sein als Türkisch, Arabisch und Englisch. Und ich kann diesen Satz auch selber sagen. Es gibt ja auch Situationen, in denen ich Anderen fremd bin, mit meinen Besonderheiten und manchmal auch schrulligen Eigenschaften. Die Form eines Obelisken stammt ursprünglich aus Ägypten. Mit ihrer langen nach oben spitz zu laufenden Form galten sie als Stein gewordene Sonnenstrahlen. Dass der Satz von dem Fremden auf einem Obelisken steht, bedeutet für mich: Jeder Mensch ist ein eigener, Person gewordener Sonnenstrahl vom Himmel. Auch ich kann ein Sonnenstrahl für andere sein, dann, wenn ich mich und Andere annehme gerade da, wo wir nicht gleich, sondern unterschiedlich sind.