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Eine alte Taschenuhr
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Eine alte Taschenuhr

Dr. Ansgar Wucherpfennig
Ein Beitrag von Dr. Ansgar Wucherpfennig, Jesuitenpater, Professor für Neues Testament an der Hochschule Sankt Georgen, Frankfurt
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Ein guter Freund von mir hatte eine alte Taschenuhr. Das war schon besonders. Ich schaue auf eine Armbanduhr, wenn ich die Uhrzeit wissen will, andere schauen auf ihr Handy. Er musste die Uhr aus der Hosentasche holen. Sie hing an einer goldenen Kette an einer Gürtelschlaufe seiner Hose. Wenn mein Freund nach der Uhrzeit geschaut hat, war das ein ästhetisches Ereignis. Die Uhr hatte eine schöne Form mit einem goldenen Rahmen, ein eindrucksvolles altes Ziffernblatt und klassisch geschwungene Zeiger. Wenn er die alte Uhr herauszog, habe ich mich gefragt: Wie viele Minuten, Stunden und Tage hat diese Uhr wohl schon gezählt, und was haben die Menschen in diesen Zeiten erlebt?

Menschen brauchen Ruhezeiten genauso wie Gott

Für die Bibel ist die wichtigste Einheit in der Zeit der Tag. Die Geschichte von der Erschaffung der Welt, ganz am Anfang der Bibel, wird in Tagen erzählt. Sechsmal heißt es: „Es wurde Abend, und es wurde Morgen: Tag eins.“ … „Es wurde Abend, und es wurde Morgen: Tag zwei.“ So geht es weiter. Tag für Tag entsteht immer wieder etwas Neues auf der Erde, bis zum sechsten Tag. Da heißt es: „Am siebten Tag ruhte Gott.“ Das ist der Bibel wichtig an der Zeit: Es braucht Ruhezeiten, sogar für Gott. Nach sechs Tagen, in denen Gott Himmel und Erde erschaffen hat und alles in ihnen, muss auch Gott von seiner Arbeit ausruhen. Menschen brauchen Ruhezeiten genauso wie Gott. Sogar Uhren brauchen Ruhezeiten. Wenn die Taschenuhr meines Freundes stehen geblieben ist, musste er sie an einem kleinen Rädchen über der Zwölf wieder aufziehen.

Ein winzig kleiner Moment – so unendlich wichtig

Minuten und Sekunden kommen in der Bibel nicht vor, die kleinste Einheit ist die Stunde. Aber die Bibel weiß natürlich auch noch um andere Maßeinheiten für die Zeit: Sie kennt Jahreszeiten, Festzeiten und Monate, die nach dem Mond bestimmt werden. Einen Aspekt finde ich besonders interessant: In der Bibel gibt es auch eine Stelle, an der ein winzig kleiner Moment in der Zeit beschrieben wird. Paulus schreibt davon. Er nennt diesen Moment: unteilbar – im Griechischen: a-tomos. Er beschreibt ihn mit einem Augenblinzeln (1 Kor 15,52). So schnell und unauffällig wie ein Augenblinzeln vergeht, ist dieser ganz kurze Moment, und doch ist er unendlich wichtig. Denn so stellt sich Paulus den Himmel vor.

Solche Augenblicke gibt es auch jetzt schon

Wenn Menschen in Gottes Ewigkeit eingehen, dann ist ihre ganze Zeit in einem winzig kleinen Augenblick zuhause angekommen. Paulus stellt sich das so am Ende der Zeit vor, aber ich glaube, solche Augenblicke gibt es auch schon jetzt: wenn ich den frischen Duft des Waldes einatme, wenn ich einen sanften Wind im Gesicht spüre oder wenn ich dem Augenblick eines geliebten Menschen begegne. Die alte Taschenuhr von meinem Freund hat sicher viele, viele solche Momente gezählt, auch wenn sie selber dabei vermutlich eher in der Tasche geblieben ist, denn in solchen Augenblicken schaut man gewöhnlich nicht gleich auf die Uhr.

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