
Reich ihm deine Hand
Elzbieta Ficowska (gesprochen: Elschbieta Fizowska) ist ein gerettetes Baby. Nun sitzt die 82-Jährige in der Sendung „Titel, Thesen, Temperamente“ und erzählt darüber. Sie ist Polin und Kind jüdischer Eltern. In die Kamera hält sie einen silbernen Löffel. Der Löffel ist das einzige, was ihr von ihren Eltern geblieben ist. Auf dem Löffel ist ihr Geburtsdatum eingraviert: 5.1.1942.
1942 leben ca. eine halbe Million jüdischer Menschen zusammengepfercht im Warschauer Ghetto
Das ist die Zeit, in der ungefähr eine halbe Million jüdischer Menschen eingepfercht im Warschauer Ghetto leben. Sie verhungern, sterben an Seuchen oder später im Konzentrationslager. Elzbieta Ficowska überlebt.
Elzbieta Ficowska verdankt ihr Überleben einder mutigen Frau
Das hat sie der Krankenschwester und Sozialarbeiterin Irena Sendler zu verdanken. Die gründete damals ein Netzwerk mit zehn gleichgesinnten Frauen. Sie und ihre Mitstreiterinnen schleusen über 2000 jüdische Kinder aus dem Ghetto. Versteckt unter Müll, in Säcken oder Kisten. In LKWs, in Straßenbahnen oder durch die Kanalisation. Die Kleinkinder sind dabei mit einem Schlafmittel leicht sediert. Nach der Flucht werden die Kinder in Klöstern, Waisenhäusern oder Pflegefamilien untergebracht. Die mutigen Frauen und die Pflegefamilien leben in ständiger Angst: Fliegen sie auf, werden sie mit dem Tod bestraft.
Irena Sendler erinnert sich noch heute an die Abschiedsszenen zwischen Eltern und Kindern
Erst Ende der 90-er Jahre erzählt Irena Sendler in einigen Interviews von ihren Taten. Da sieht man die mutige Frau von damals im Rollstuhl sitzen. Sie wirkt zierlich und gebrechlich. Doch sie erinnert sich noch gut. Insbesondere an viele Abschiedsszenen. Sie erzählt: „Die Eltern haben selbst dem Tod entgegengesehen. Doch sie fragten immer: „Wer garantiert mir, dass mein Kind überlebt?“ Ich sagte: „Niemand. Ich weiß nicht einmal, ob ich selber überlebe.““ Oft wird Irena Sendler gefragt: „Warum waren Sie so mutig und haben sich selbst größter Gefahr ausgesetzt?“ Dann erwähnt sie ihren Vater. Verweist auf die Werte, die er ihr beigebracht hat: „Mein Vater hat immer gesagt: „Wenn jemand zu ertrinken droht, reiche ihm deine Hand.“ Ich habe den Juden einfach nur die Hand gereicht.“
Ein einfacher Auftrag: einem Ertrinkenden die Hand reichen
2008 stirbt Irena Sendler in Warschau im Alter von 98 Jahren. Sie hat vielen Menschen das Leben gerettet. Mir hinterlässt sie diesen einfachen Auftrag: einem Ertrinkenden die Hand reichen. Das ist Nächstenliebe. Zu der fühle ich mich als Christin natürlich aufgerufen. Im richtigen Moment die Hand reichen, das ist zumindest mein Ziel. Das klingt einfach. Heute geht es dabei meist um viel weniger als damals. Aber auch heute ist manchmal Mut erforderlich. Wie etwa, deutlich zu widersprechen, wenn andere pauschal über ausländische Menschen als faule Nutznießer reden, die andere für sich bezahlen lassen. Denn das stimmt so nicht.
"Ich bin mitverantwortlich dafür, was heute passiert"
Irena Sendler, die Retterin vieler Kinder, bleibt unvergessen. Über sie kann man jetzt, im Sommer 2024, in Berlin ein polnisches Musical erleben. Wenn die erste Aufführung in Deutschland stattfindet, ist Elzbieta Ficowska dabei, das gerettete Baby von damals. Sie sagt: „Die Deutschen von heute müssen sich nicht schuldig fühlen für die Taten ihrer Vorfahren. Aber sie müssen wissen, was passiert ist.“ Und ich denke: Ich bin mitverantwortlich dafür, was heute passiert.