
Das Gedächtnis der Welt
Der Raum ist festlich geschmückt, der Tisch gedeckt, der Kuchen gebacken. Als jemand die alte Dame in ihrem schönsten Kleid in den Raum führt, fragt sie überrascht: Was ist denn hier los? Die Gäste schauen sie freundlich an und sagen: Sie haben Geburtstag. Ich? fragt die Dame, wie alt werde ich denn? Neunzig, sagen zwei Gäste am ersten Tisch. Neunzig?, sagt die alte Dame, das kann nicht sein, gestern war ich erst 86.
Wenn Erinnerungen verrutschen
Demenz ist nicht lustig, aber manchmal doch zum Lächeln. Wenn Erinnerungen verrutschen, ist das kein Spaß. Es tut eher weh. Vor allem, wenn Angehörige davon betroffen sind und nicht mehr erkannt werden. Der alte Mensch weiß ja oft nicht mehr, wie seine Erinnerungen ihn oder sie verwirren. Ganze Jahre verschwinden aus dem Gedächtnis, Gesichter werden falsch zugeordnet, die immer gleichen Fragen gestellt. Das ist kein Spaß.
Gott sei Dank-manchmal darf man auch lächeln
Für Pflegerinnen nicht und erst recht nicht für Angehörige. Aber manchmal darf man auch mal lächeln, Gott sei Dank. Plötzlich ist die alte Dame, die neunzig wird, wieder 86. Ist doch schön. Ein anderer sieht aus dem Fenster, erkennt einen rauchenden Schornstein und sagt: Da kommt ein Schiff. Mitten im Bergland. Da darf man lächeln. Und soll dann nichts besser wissen. Eine mir fremde Wirklichkeit hat auch ihr Recht. Dann ist beiden geholfen. Besser wissen hilft wenig.
Gott kennt das Geburtstagskind
Leicht ist das alles nicht, weiß Gott nicht. Wer bis zu zwanzigmal am Tag die gleiche Frage beantworten muss, weiß, wovon ich rede. Weiß aber auch, dass eine aus den Fugen geratene Erinnerung ihr Recht hat. Dann ist die Neunzigjährige eben 86, was soll‘s. Als ich mich an ihrem Fest von der alten Dame verabschiede, sage ich zu ihr: „Gott befohlen“.
Gott ist das Gedächtnis der Welt
Sie hört es, stutzt einen Moment und überlegt wohl, wer das nun wieder ist und ob sie ihn kennt. Ist nicht schlimm. Dafür kennt Gott ja die alte Dame und hält sie fest an seiner Hand. Für Gott gibt es keine Demenz. Nur unterschiedliche Menschen. Was wir von uns und der Welt vergessen, ist bei ihm aufgehoben. Gott ist das Gedächtnis der Welt.