
Mußestunden in der Therme
In Bad Nauheim ist eine schöne Therme wiedereröffnet worden. Ich genieße es, in verschiedenen warmen Becken von allen Seiten umsprudelt zu werden. Das ist für mich Muße und Entspannung pur. Als ich das erste Mal dort gewesen bin, habe ich die verschiedenen Wasserspiele ausprobiert und bin in einem Strömungskanal gelandet. Er war kreisförmig ausgelegt, und ich hab mich ein paar Runden vom Wasser treiben lassen.
Leistungsimpulsen ausblenden und sich einfach treiben lassen
Sich treiben lassen - etwas mit sich geschehen lassen - das fällt mir nicht sofort leicht. Ich muss mir erstmal klarmachen, dass in diesen Sprudelbecken und Strömungskanälen nichts von mir erwartet wird, kein Schwimmtraining, kein Kraulen auf Zeit, kein Weittauchen. Dieser Leistungsimpuls stellt sich bei mir leider automatisch ein, vielleicht, weil außerhalb des warmen Bades, im normalen Alltag, die Uhren anders ticken. Da soll man nicht nur aktiv, sondern auch noch proaktiv sein. Selbst in der Therme geht das manchen so: Während ich mich vom Wasserstrom im Kreis hab treiben lassen, sind mehr Leute hinzugekommen und wollten den Sog durch intensive Schwimmbewegungen noch optimieren. Einige haben sich zugerufen: „Nur rechts überholen!“ Als ob es ausgerechnet hier - im Kreis - darauf ankäme, schneller an irgendeinem Ziel zu sein.
Muße war in der Antike ein Privileg weniger Menschen
Wenn man sich so vom Wasser treiben lässt, dann hab’ ich mich an den Spruch erinnert: „Müßiggang ist aller Laster Anfang“. Ist das so? In der Antike war Muße ein hohes Gut. Wer nicht arbeiten musste, sondern andere für sich arbeiten ließ, hatte viel Zeit, um sich mit Politik, Kunst und Wissenschaft zu beschäftigen. Muße war ein Privileg weniger Menschen. Sie bedeutete aber nicht Passivität, sondern Raum und Zeit für persönliche Kreativität. In Freiheit konnten sich damals wie heute neue Ideen entwickeln.
Viele jüngere Leute wünschen sich eine bessere Work-Life-Balance
Das denken vielleicht auch all jene, die für sich und andere mehr „Work-Life-Balance wünschen. Vor allem von jüngeren Leuten hört man jetzt immer öfter: Sie würden lieber ihre Arbeitszeit etwas reduzieren, um mehr Zeit für sich selbst zu haben.
Der Wunsch nach Muße erinnert an Sabbat und Sonntag
Mir ist der Wunsch nach Muße sehr sympathisch. Er erinnert mich an die biblische Erfindung des jüdischen Sabbats bzw. des christlichen Sonntags. Sechs Tage Arbeit, am siebten sollst du ruh’n. Das dritte Gebot galt für alle, nicht nur für eine ausgewählte Elite.
Wochenenden voller Aktivitäten, statt besinnlichem Sonntag
Es ist zutiefst menschenfreundlich. Wenigstens einen Tag in der Woche soll es geben, der keinen Zwecken unterworfen ist. Er soll Gott gehören. Auch wenn heute über eine Viertagewoche nachgedacht wird und der Sonntag dieses religiöse „Alleinstellungsmerkmal“ einzubüßen scheint: Damals war das sensationell. Man vergisst bei all den Aktivitäten am Wochenende, was mit dem Gebot: „Du sollst den Sabbat bzw. den Sonntag heiligen“ beabsichtigt gewesen ist. Ursprünglich ist er als Moment der Muße gedacht, für einen Blick nach innen. Wenn ich sonntags einen Gottesdienst besuche, muss ich nichts leisten, nicht funktionieren oder mich optimieren. Ein befreundeter Pfarrer hat mir mal gesagt: “Der Gottesdienst ist etwas Einmaliges - er ist für sich selbst da.“ So verstehe ich auch den Wunsch nach „Zeit für mich“. Das war wohl auch der ursprüngliche Sinn für das dritte Gebot. Es erweitert die Work-Life-balance um die religiöse Dimension.
Die Freiheit von Zwecken ist für mich ein Gottesgeschenk
Mir tut jedenfalls beides gut: der Gottesdienst und der Besuch in der Therme. Denn es gibt etwas gemeinsam: Die Freiheit von Zwecken. Das ist für mich ein Gottesgeschenk.