Vom Richten und Gerichtetwerden
Ich war in der Kirche Santa Maria Assunta auf der Insel Torcello in Venedig. Wer die Kirche nach einem Gottesdienst oder nach einem touristischen Besuch verlässt, geht durch eine Tür in der Westwand. Sie ist von einem riesigen Mosaik bedeckt.
Das jüngste Gericht
Es stellt das Weltgericht am Ende der Zeiten dar. Engel und Teufel kämpfen um die Seelen. Auf der einen Seite werden Menschen von Ungeheuern verschlungen oder sie brennen im Feuer. Manche sehen wie Bösewichte aus, andere aber auch wie Könige oder kirchliche Würdenträger. Auf der anderen Seite ein anderes Bild: Propheten und Apostel, Kranke und Arme werden an der Pforte des Himmels begrüßt. In der Mitte der Wand thront Christus in der Mandorla auf einem Regenbogen; rechts von ihm steigen die Menschen auf in den Himmel; links von ihm stürzen sie hinab in die Verdammnis.
Auch wenn vielen heute die Vorstellung eines Weltgerichts am Ende der Zeiten fremd ist; diese Mosaik beeindruckt bis heute und sagt jeder Person, die die Kirche verlässt: „Wir werden alle vor dem Richterstuhl Gottes stehen“, auch Du!
„Wir werden alle vor dem Richterstuhl Gottes stehen“
Für die einen ist das eine Drohung! Dieses Gericht wird mich nach meinen Taten fragen: „Was hast du getan, hast du die Hungrigen gespeist, die Fremden freundlich aufgenommen?“ Was werde ich antworten? Werde ich bestehen können?
Für andere ist es eine Verheißung, vor allem für die, die verzweifelt sind. Verzweifelt über das Unrecht, das sie erleiden: „Wenigstens bei Gott muss es doch Gerechtigkeit geben!“ Wenigstens da müssen sie doch Verantwortung für ihre Taten übernehmen: die Kriegstreiber, die so viele Unschuldige auf dem Gewissen haben; die, die Hass säen oder andere ermorden; sie dürfen doch nicht einfach durchkommen.
Musik : Heinrich Schütz: Verleih uns Frieden
Wir urteilen schnell über andere
Gottes Gericht löst bei mir ambivalente Gefühle aus. Dabei bin ich sonst schnell mit meinem Richten: die ist so und der so; schon stecken die anderen in einer Schublade. Und die anderen sind auch nicht langsam mit ihrem Urteil über mich. Wie passt Gottes Gericht zu meinem Richten und Gerichtet-Werden? Verändert sich etwas in meinem Leben und Sterben, wenn ich an Gottes Gericht glaube?
Ein Brief des Apostel Paulus an die Römer
Der Apostel Paulus schreibt dazu im 14. Kapitel des Briefes an die Römer: „Niemand von uns lebt für sich selbst und niemand stirbt für sich selbst. Leben wir, so leben wir mit Christus; sterben wir, so sterben wir mit ihm. Darum: Ob wir leben oder sterben: wir gehören zu Christus! Denn Christus ist gestorben und wieder lebendig geworden, damit sich Gottes Macht über Tote und Lebende kräftig zeigt. Du aber, was richtest du deine Schwester? Oder du, was verachtest du deinen Bruder? Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden. Denn beim Propheten Jesaja heißt es (Jesaja 45,23): »So wahr ich lebe, spricht der Herr, mir sollen sich alle Knie beugen, und jede Zunge wird sich zu Gott bekennen.« So wird nun jede und jeder von uns Gott Rechenschaft geben über das eigene Leben. Darum lasst uns aufhören, uns gegenseitig zu verurteilen. Achtet vielmehr darauf, dass ihr euren Bruder nicht zu Fall bringt und nicht zum Stolperstein für eure Schwester werdet“.
Wir fällen Urteile über andere und werden beurteilt
Am Ende der Zeiten werden wir alle vor dem Richterstuhl Gottes stehen. Aber schon jetzt bin ich mit Richten beschäftigt und werde von anderen gerichtet: Nur selten vor Gerichten, aber ganz selbstverständlich in Lehrwerkstätten, in Schulen und Universitäten. Da wird über Lebenschancen entschieden so wie auch in den Personalabteilungen von Betrieben. Menschen fällen Urteile über andere. Das gehört zu uns; darin zeigt sich unsere Fähigkeit die Welt zu verstehen und zu gestalten.
Menschen werden beurteilt. Die einen finden Anerkennung und werden belohnt. Sie bekommen gute Noten oder eine bessere Stelle. Sie steigen auf. Bei den anderen senkt sich der Daumen. Sie genügen den Erwartungen nicht. Sie fallen durch. Sie haben das Nachsehen. Sie sind raus. Das gilt auch im Privaten: die ist mir sympathisch, aber mit dem will ich nichts zu tun haben. Wir richten und werden gerichtet; das scheint unvermeidlich – das gehört zum menschlichen Leben.
Manche Urteile sind gnadenlos
Manche Urteile sind hart und gnadenlos: Eine Schülerin gerät wegen ihres Aussehens in der Klasse ins Abseits: Sie wird auf dem Schulhof ausgelacht. Auf Instagram tauchen Bilder von ihr auf, die sie bloßstellen. Sie wird nicht mehr zu Geburtstagen eingeladen. „Für die bin ich nur ein Stück Dreck! Ich geh‘ nicht mehr in die Schule!“ Solche Erfahrungen können schreckliche Folgen haben. Gut, wenn die junge Frau Menschen hat, mit denen sie darüber reden kann und bei denen sie Anerkennung findet.
Paulus kennt solche Erfahrungen und erinnert die, die andere abschätzig beurteilen an das Gericht Gottes: „Du aber, was richtest du deine Schwester? Oder du, was verachtest du deinen Bruder? Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden.“
Musik Bohuslav Martinu: Field Mass
Zerstörerisch wird das Richten, wenn Gut und Böse im politischen Raum gegeneinandergestellt werden
Besonders zerstörerisch wird das Richten, wenn Gut und Böse im politischen Raum gegeneinandergestellt werden: Die einen sind sich sicher, dass sie auf der richtigen Seite stehen, und urteilen über die anderen: Die müssen weg. Die bringen Unheil über uns. Die zerstören unser Volk und unser Leben.
Im Nationalsozialismus haben die jüdischen Menschen die Brutalität und tödliche Härte dieses Richtens erlitten. Aber nicht nur sie: auch Sinti und Roma, Menschen mit körperlichen und seelischen Einschränkungen, mit anderen politischen oder religiösen Überzeugungen. Alle, die „anders“ waren, wurden verachtet. Am Ende lautete das Urteil: „Nicht lebenswert!“
Vorurteile und Verachtung breiten sich heute wieder aus
Am heutigen Volkstrauertag denken wir auch daran, wie solches Richten in zwei Weltkriegen die Feindschaft zur Richtschnur des Lebens gemacht hat. Und leider erleben wir gegenwärtig, wie sich die Verachtung auch bei uns wieder ausbreitet. Heute heißt das Urteil: die Flüchtlinge sind an allem schuld! Nicht der Klimawandel, nicht die Zukunft der Rente, nicht die medizinische Versorgung, sondern die Migration wird zu der großen Herausforderung erklärt. Die Fremden werden verurteilt, die bei uns Schutz und eine bessere Zukunft für sich und ihre Kinder suchen: „Ihr seid anders. Ihr seid die Wurzel allen Übels. Ihr gehört nicht hierher.“
"Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden"
Wieder klingen mir die Worte des Paulus im Ohr: „Du aber, was richtest du deinen Bruder? Oder du, was verachtest du deine Schwester? Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden.“
Für mich heißt das: Wer sich in dieser Weise vor dem Richterstuhl Gottes sieht, schaut anders auf sich und auf die anderen. Wenn ich davon ausgehe, dass alles, was ich tue und lasse, wie ich andere achte oder verachte, dass all das vor dem Richterstuhl Gottes sichtbar wird und zur Sprache kommt, dann ändert sich etwas an meinem Richten.
Wir folgen den Wegen füherer Generationen
Gottes Gericht sieht mich in einer langen Kette der Schöpfung und der Generationen. Ich lasse mich tragen von dem, was meine Vorfahren geschaffen haben, aber ich trage auch an dem, wie sie gemeinsam mit vielen anderen den Weg in die Zukunft bereitet haben: Wir stolpern bis heute in unseren Dörfern und Städten über die Steine, die an die Ermordeten des Holocaust erinnern. Wir suchen danach, wie wir ein neues Verhältnis zur Natur gewinnen, nachdem wir so lange auf den fossilen Pfad gesetzt haben, auf die Maßlosigkeit als Antrieb des wirtschaftlichen Handelns.
"Ich bin hier und jetzt nach meiner Verantwortung gefragt"
Ich bin also geprägt durch eine lange vor mir angelegten Entwicklung, aber ich bin nicht nur Opfer – und hoffentlich auch nicht letzte Generation. Ich bin hier und jetzt nach meiner Verantwortung gefragt: für die Menschen um mich herum und das zukünftige Leben auf dieser Erde. Ich höre auf, die Schuld zuerst bei anderen zu suchen; ich sehe nicht zuerst den Splitter im Auge der anderen, sondern weiß: Am Ende bin ich gefragt; am Ende werde ich vor Gott stehen, um mich zu verantworten: mit meiner Geschichte, mit meinen Freundschaften und Feindschaften, mit dem, wie ich gerichtet habe und gerichtet wurde. Wonach wird sich das Urteil Gottes über mein Leben richten?
W. A. Mozart: Requiem (Dies Irae)
Wonach wird sich das Urteil Gottes richten?
Wonach wird sich das Urteil Gottes richten? Ich erinnere mich noch einmal an die wunderbare Kirche auf Torcello. Ich sehe das Mosaik vom Jüngsten Gericht und denke an das Evangelium des heutigen Sonntags, das Gleichnis vom Weltgericht. Woran sich das Urteil Gottes entscheidet, wird dort knapp in zwei Sätzen zusammengefasst, einem positiven und einem negativen: „Was ihr getan habt einem meiner geringsten Geschwister, das habt ihr mir getan. Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan.“ (Matthäus 25, 40 und 45)
Christus sitzt auf dem Gerichtsstuhl und antwortet auf die Frage nach den Kriterien für sein Urteil, indem er unseren Blick wieder auf die Erde zurücklenkt: „Du fragst dich, wie du mir und Gott begegnen sollst. Ich sage dir: Schaue nach den Menschen, die dir anvertraut und zugemutet sind. Wie du deinen Bruder richtest, wie respektvoll du mit deiner Schwester umgehst, daran wirst du gemessen.“
Das heißt dann konkret: Habe ich geprüft, ob ich den Schüler oder die Auszubildende mit meiner Bewertung oder meinem Kommentar bloßstelle? Habe ich gemerkt, wenn ich meine Überlegenheit so ausgenutzt habe, dass die andere Person sich beschämt gefühlt hat? Bin ich mutig gewesen und habe widersprochen, wenn mit Verachtung über Menschen gesprochen wurde, die bei uns Zuflucht suchen? Bin ich aufgestanden, wenn sie in der Straßenbahn angepöbelt wurden?
Wie bin ich mit meinen Mitmenschen umgegangen?
„Darum lasst uns nicht mehr einander richten; sondern richtet vielmehr darauf euren Sinn, dass ihr den anderen keinen Stein in den Weg legt oder sie zu Fall bringt.“ So gewinnt ein neues Richten unter uns Gestalt: Ich werde vor dem Gericht Gottes gefragt, wie ich mit meinen Mitmenschen umgegangen bin. Deshalb versetze ich mich in sie hinein. Ich rede mit ihnen statt über sie. Ich widerspreche, wo schlecht über Menschen geredet wird. Im Glauben an das Gericht Gottes wird unser Richten zu einem Aufrichten; zu einem Aufrichten, das Menschen ermutigt und zusammenführt.
Musik David Pohle: Sonata à 5 in g
Ein göttliches Gericht, das barmherzig und gnädig ist, wäre wünschenswert
Wer erlebt, wie hart und unbarmherzig Menschen einander beurteilen, wünscht sich vielleicht ein göttliches Gericht, das barmherzig und gnädig ist und keinen doppelten Ausgang kennt, der entweder nach oben oder in die Tiefe führt. Wünscht sich vielleicht einen lieben Gott, eine Person auf diesem letzten Gerichtsstuhl, die sagt: „Egal, was du geleistet und getan hast, wie hässlich du über andere gesprochen hast, wie brutal du andere abgewertet hast: Gott liebt dich; am Ende geht es himmelwärts.“
Aber Gott ist nicht lieb wie der Hund, von dem die Besitzerin sagt: „Der ist lieb, der tut nichts!“ Gott tut etwas. Gott richtet Recht und Gerechtigkeit auf. Lebendig und kräftig setzt Gott sich durch. »So wahr ich lebe, spricht der Herr, mir sollen sich alle Knie beugen, und alle Zungen sollen Gott bekennen.«
Wie passt das zusammen: Ein strenger Gott und ein gnädiger Gott?
Wie passt das zusammen: Gottes Gericht nach klaren, strengen und gerechten Maßstäben und unsere Hoffnung auf einen gnädigen Gott, wie viele Geschichten in der hebräischen Bibel und im Neuen Testament ihn uns zeigen?
Auf dem Mosaik vom Weltgericht in Torcello sitzt Christus auf dem Gerichtsstuhl. Aber über ihm ist noch der Auferstandene abgebildet, der den Verstorbenen die Hand entgegenstreckt und sie in das neue Leben führt. Und darüber, ganz oben in der Spitze des Mosaiks ist der Gekreuzigte dargestellt.
Er ist meine Hoffnung für dieses Gericht: Da wird das Unrecht benannt, das ich getan habe. Da kommen die Verachtung, das Wegschauen und die Feigheit zur Sprache, durch die wir einander niedergedrückt haben. Da verliert die Bosheit ihre Macht und die Bösen kehren mit Heulen und Zähneklappern um.
Jesus Christus wir kommen, zu richten die Lebenden und die Toten
Aber in all dem sind wir nicht allein. Jesus Christus, der „kommen wird, zu richten die Lebenden und die Toten“, er ist da und trägt mit uns an den Schrecken dieses Gerichtes. Tod und Teufel haben nicht das letzte Wort. Christus kann dem Ungeheuer befehlen, mich wieder auszuspucken, wenn ich im Gericht nicht bestehen konnte, so wie es das Bild in Torcello zeigt. Christus bleibt treu, trägt mit und lässt uns seine Kraft erleben, wie es die ersten Verse des Bibeltextes beschreiben:
Niemand von uns lebt für sich selbst und niemand stirbt für sich selbst. Leben wir, so leben wir mit Christus; sterben wir, so sterben wir mit Christus. Darum: Ob wir leben oder sterben: wir gehören zu ihm! Denn Christus ist gestorben und wieder lebendig geworden, damit sich Gottes Macht über Tote und Lebende kräftig zeigt.
„Wir werden alle vor dem Richterstuhl Gottes stehen!“ Jede und jeder für sich, aber doch nicht allein, sondern mit Christus. Er trägt mit uns an dem, wo wir versagt haben und schuldig geworden sind. Er feiert mit uns, wo wir einander aufgerichtet und ermutigt haben.
Musik: J. S. Bach, Kantate 93: Ich bin herrlich, ich bin schön, meinen Heiland zu entzünden