Wie will ich leben?
Eigentlich ist der November der Totenmonat. Viele gehen in diesen Tagen zu den Gräbern ihrer Lieben, ich auch. Aber dieses Jahr stelle ich mir im November auch eine ziemlich lebendige Frage: Wie will ich leben? Das hat durchaus mit den Verstorbenen zu tun, an die ich mich erinnere und die ich am Grab besuche. Die Mutter einer Freundin zum Beispiel, die im vergangenen August gestorben ist. Oder meine eigene Mutter, die schon über 30 Jahre tot ist. Ich muss heute auch an eine Freundin denken, die nur 49 Jahre alt geworden ist. Und ich denke an Bischof Franz Kamphaus, der kommenden Dienstag in Limburg zu Grabe getragen wird.
Verstorbene haben mich beeinflusst und geprägt
Viele Menschen, die schon tot sind, haben mich in meinem Leben beeinflusst und geprägt. Sie haben mir Überzeugungen und Haltungen hinterlassen. Manche werden mir in meinem eigenen Älterwerden immer wichtiger. Die Lust auf fremde Länder und Menschen zum Beispiel, die die Mutter der Freundin angetrieben hat. Oder auch die starke Überzeugung: Alle Menschen sollen als gleichwertig angesehen und gleich behandelt werden. Das haben mir meine Eltern vorgelebt. Und Bischof Franz Kamphaus, der der gleiche Jahrgang war wie meine Eltern, 1932 geboren: Er steht für mich für die Überzeugung, dass man bei dem bleibt, was einem unbedingt wichtig ist.
Ich möchte heute in dieser Morgenfeier an die Toten erinnern, indem ich davon erzähle, was sie mir für mein Leben bedeuten. Für die Musik habe ich so genannte „Tombeaux“ mitgebracht, das sind musikalische Grabsteine aus der Barockzeit, gespielt von Laute und Harfe.
Musik 1: aus: Denis Gaultier, Tombeau de Mons.r de Lenclosin in a-Moll (CD: Tombeaux. Remembrances, Michael Dücker, Laute / Johanna Seitz, Harfe, Prospero / WDR The Cologne Broadcasts 2020, Track 12, ca. 0.00 – 2.00)
Fremdes entdecken und wertschätzen
Die Mutter einer Freundin ist in ihrer zweiten Lebenshälfte viel gereist. Als sie im August gestorben ist, hat meine Freundin die vielen Reiseführer und Fotoalben durchgeschaut, die sie hinterlassen hat. Als die Kinder aus dem Haus waren und der Ehemann verstorben war, hat die Mutter die Welt entdeckt. Sie hat sich für das Fremde interessiert, erzählt die Freundin. Kam gerne ins Gespräch mit den Menschen in den fernen Ländern, auch davon gibt es etliche Bilder in den Alben. Sie wollte etwas erfahren über andere Kulturen und Sprachen. Mich inspiriert das.
Neugierig bleiben beim Älterwerden
Ich denke – oder befürchte - ja manchmal: Beim Älterwerden wird die Welt enger. Das Eigene, das Vertraute wird immer wichtiger. Ich merke zum Beispiel: Mich zieht es nicht mehr so in die weite Welt hinaus. Das hat auch damit zu tun, dass ich nicht mehr fliegen will, um das Klima zu schützen. Aber ich genieße es auch, in Regionen zu reisen, die ich schon kenne, nach Frankreich ins Kloster zum Beispiel oder in die Berge zum Wandern. Trotzdem finde ich diese Haltung wichtig: sich für das Fremde interessieren, neugierig bleiben, auch jenseits der 50, 60 oder 70. Wenn ich auf Reisen bin, komme ich auch gerne ins Gespräch mit den Menschen auf der Straße, im Restaurant oder an einer Bushaltestelle. Ich interessiere mich dafür, wie es Menschen in anderen Regionen geht, ich lese auch Bücher dazu oder schaue Filme.
Begegnung mit einer Frau aus Papua-Neuguinea
Oder ich treffe Menschen aus fernen Ländern, wenn sie bei uns zu Besuch sind. Im Oktober waren Gäste aus Papua Neu-Guinea in Deutschland, Anlass war der Aktionsmonat des katholischen Hilfswerks Missio. Ich war bei einer Veranstaltung dabei, in der eine Frau von ihrem Leben auf den Inseln des Tulu-Atolls erzählt hat. Ihre Heimat ist bedroht durch die Folgen des Klimawandels, den steigenden Meeresspiegel. Die Frau hat davon berichtet, wie sie dort Mangroven-Bäume pflanzen, um das Wasser zurückzuhalten. Spannend, traurig und inspirierend war diese Begegnung mit der Frau aus Papua Neu-Guinea.
Den Fremden lieben
Ich habe gemerkt: sich für das Fremde interessieren, das geht für mich einher mit Wertschätzung und Empathie für das Fremde. Ich habe etwas gespendet für die Pflanzung der Mangroven-Bäume. Auch die Mutter meiner Freundin, die im August gestorben ist, ist nicht nur in fremde Länder gereist, sondern hat sich für Menschen dort eingesetzt, Geld gespendet. Auch deshalb will ich mir dieses Interesse an fremden Ländern und Menschen erhalten: Es verbindet mich mit der Welt und es macht im Idealfall mich und die Welt ein bisschen besser. Mich erschreckt es, wenn ich im Internet und auf Social Media immer öfter lese: Wir müssen uns nur noch um uns und um unser Land kümmern! Wir können nichts geben für Menschen in fernen Ländern. Ich find das befremdlich. Und ich möchte mir eine Haltung erhalten, die sich ganz im Gegenteil interessiert und einsetzt für fremde Länder und Menschen. „Du sollst den Fremden lieben - er ist wie du“ - sagt die Bibel im dritten Buch Mose, Levitikus (Lev 19,33).
Vermutlich hat die Sympathie für das Fremde auch zu tun mit meiner verstorbenen Mutter. Sie war Flüchtling aus Schlesien – und kannte das Gefühl, fremd und unerwünscht zu sein. Auch von ihr hab ich viel gelernt zur Frage: Wie möchte ich leben?
Musik 2: aus: Denis Gaultier, Tombeau de Mons.r de Lenclosin in a-Moll (CD: Tombeaux. Remembrances, Michael Dücker, Laute / Johanna Seitz, Harfe, Prospero / WDR The Cologne Broadcasts 2020, Track 12, ca. 2.00 – 5.00)
Erfahrungen von der Flucht aus Schlesien
Je älter ich werde, desto stärker wird mir bewusst, wie Menschen mich geprägt haben. Selbst Menschen, die schon lange tot sind. Meine Mutter ist vor über dreißig Jahren gestorben, aber ich denke immer noch oft an sie. Mit 13 Jahren musste sie am Ende des Zweiten Weltkriegs aus Oberschlesien fliehen. Vieles aus ihren Fluchtgeschichten hat uns schon als Kinder beeindruckt und beeinflusst. Etwa die Haltung: Lebensmittel sind kostbar! Es wird nichts weggeworfen! Meine Mutter musste mit ihren Geschwistern hungern auf der Flucht. Und bis heute kratze ich meinen Teller leer bis auf den letzten Saucenrest und mache aus altem Brot Semmelbrösel oder Semmelknödel. Eine zweite Erfahrung, von der meine Mutter erzählt hat: Auch damals schon ist man geflüchteten Menschen reserviert bis feindlich begegnet, oft haben die Alteingesessenen nur ungern geteilt, was sie hatten. Vom Eigenen abgeben, Hungernden zu essen geben, das war bei uns klare Maxime – und ist es für mich bis heute.
Jeden Menschen gleich behandeln
Und ein Drittes, das mir meine Mutter hinterlassen hat für die Art, wie ich leben will: Egal, ob Chef oder Obdachloser: Alle Menschen müssen gleich behandelt werden. Das hat sie uns immer wieder vermittelt. Alle Menschen sind gleich. Und das heißt: Ich buckle vor niemandem. Und ich behandle niemanden von oben herab. Auch diese Haltung meiner Mutter hatte wohl mit ihren Erfahrungen auf der Flucht zu tun. Oft musste sie als hungrige 13jährige mit ansehen, wie die wenigen Nahrungsmittel an andere gingen, Pfarrer und Lehrer zum Beispiel, die Autoritäten am Ort. Wenn Menschen hofiert oder besser behandelt wurden, nur weil sie mächtiger sind, dann war ihr das ein Graus. Sie hat Autoritäten nie bevorzugt oder ihnen nach dem Mund geredet. Und umgekehrt: Hungrige Obdachlose hat sie immer mit Würde behandelt.
Alle Menschen als gleich ansehen und gleich behandeln: Auch mein Vater, der vor knapp zwei Jahren gestorben ist, hat mir diese Haltung vorgelebt. Er war Sozialarbeiter. Ich erinnere mich, dass wir manchmal Klienten von ihm in der Stadt getroffen haben. Menschen, die deutlich ärmlicher aussahen als wir, sogar ein bisschen abgerissen. Aber mein Vater hat sie ganz genauso behandelt, als wären es Nachbarn oder einer unserer Lehrer. Freundlich hat er mit ihnen gesprochen, gefragt, wie es geht. Das hat mich damals als Kind beeindruckt.
Keine Unterschiede nach Macht oder Ohnmacht
Menschen gleich behandeln: Meine Eltern haben das auch aus ihrer christlichen Überzeugung getan. Alle Menschen sind gleich, sind Gottes Kinder. Wenn ich das tief verinnerlicht habe, dann mache ich keine Unterschiede mehr nach Macht oder Ohnmacht. „Du sollst weder für einen Geringen noch für einen Großen Partei nehmen“, sagt die Bibel (Lev 19,15). Mir ist diese Haltung im Laufe meines Lebens immer wichtiger geworden, es ist ein Erbstück meiner Eltern.
Zu den längst verstorbenen Menschen, die mich in meinem Leben beeinflusst haben, gehört aber auch eine Freundin, die schon mit 49 Jahren gestorben ist. Und an sie muss ich immer mal wieder denken, wenn ich übers Älterwerden jammern will.
Musik 3: Francois Dufaut, Tombeau de M.r Blanrocher in g-Moll (CD: Tombeaux. Remembrances, Michael Dücker, Laute / Johanna Seitz, Harfe, Prospero / WDR The Cologne Broadcasts 2020, Track 10, 2.51).
Jammer nicht übers Älterwerden!
Neulich stand ich wieder einmal an ihrem Grab: Eine Freundin von mir ist mit 49 Jahren an Krebs gestorben. Sie war eine humorvolle, ziemlich direkte Person. Wenn Menschen darüber gejammert haben, dass sie älter werden, 50 zum Beispiel: Dann konnte sie ziemlich deutlich sagen: Jammert nicht! Ich würde gerne 50 werden und weiß nicht, ob ich es erlebe. Sie hat es nicht erlebt. Und ich denke jetzt beim Älterwerden immer mal wieder an sie.
Lebe bewusst und dankbar!
Ja, Älterwerden ist nichts für Feiglinge. Schon mit Mitte 50 denke ich das jetzt ab und an. Die Haare werden grauer, im Sommer hatte ich wochenlang Probleme mit der Schulter. Und um mich herum gibt’s jetzt immer mehr Menschen, die Knie oder Rücken haben oder sonstige körperliche Wehwehchen oder richtige Probleme. Wenn ich an meine verstorbene Freundin denke, sage ich mir trotzdem: Jammer nicht zu viel! Du wirst älter, das ist ein Glück. Sei dankbar dafür! Genieße das Älterwerden und genieße das Leben!
Mach, was dir Freude macht!
Wie will ich leben? Meine verstorbene Freundin hat mir mit auf den Weg gegeben: Lebe bewusst und dankbar! Mach das, was dir Freude macht! Und vermeide Dinge und Menschen, die dir nicht gut tun! Ich glaube, sie hat das auch in ihren Jahren der Krebskrankheit immer mehr gelernt. Ihr hat es zum Beispiel Spaß gemacht und gut getan, joggen zu gehen. Wir haben das oft zusammen gemacht. Und nach dem Laufen haben wir uns einen frisch gepressten Orangensaft und einen Milchkaffee gegönnt. Das hat dem Körper und der Seele gut getan. Genieße das Leben, erst recht, wenn du spürst, dass es endlich ist: Das hat mir meine Freundin mitgegeben.
Joggen, Singen, Gottesdienstfeiern
Für mich gehört es deswegen auch zu ihrem Vermächtnis, darüber nachzudenken: Was macht mir Spaß, mit welchen Dingen und Menschen möchte ich mein Leben und meine Tage füllen? Joggen ist nach wie vor etwas, was mir Freude macht. Und gut ist für den Körper. Bewegung ist wichtig, das hab ich immer wieder zu hören bekommen, als es meiner Schulter nicht gut ging, von Ärztin und Physiotherapeutin. Singen ist noch so etwas, was mein Leben reich macht und gut ist für Seele und Körper. Im Chor hab ich damals die Freundin kennengelernt, das Singen hat uns verbunden. Und auch die Religion: Als sie nicht mehr aus dem Haus konnte wegen ihrer Krebserkrankung, haben wir mit ein paar Freunden bei ihr am Esstisch Gottesdienst gefeiert. Wir haben zusammen gebetet und gesungen, uns ausgetauscht über Bibelstellen. Auch das war etwas, was ihr und uns gut getan hat.
Das Vermächtnis dieser Freundin für mich ist: Bleib bei dem und pflege das, was dir wichtig ist und dir gut tut!
Musik 4: Robert de Visée, Tombeau de Vieux Gallot, Allemande in a-Moll (CD: Tombeaux. Remembrances, Michael Dücker, Laute / Johanna Seitz, Harfe, Prospero / WDR The Cologne Broadcasts 2020, Track 5, 2.31)
Standhaft im Konflikt um die Schwangerenkonfliktberatung
Bleib bei dem, was dir wichtig ist! Auch bei den Überzeugungen, die dir wichtig sind! Das hat für mich Bischof Franz Kamphaus auf ganz besondere Weise gelebt. Letzten Montag ist er mit 92 Jahren gestorben, kommenden Dienstag wird er in Limburg beerdigt. Bischof Franz Kamphaus hat sehr viele Menschen geprägt, als Priester, Bischof und Mensch. Er war ein bescheidener Mann, ein begnadeter Prediger. Und wenn er von etwas überzeugt war, dann ist er dabei geblieben. Vielen ist seine Haltung zur Schwangerenkonfliktberatung Ende der 90er Jahren in Erinnerung. Er war der einzige Bischof in Deutschland, der nicht aus dem staatlichen System der Konfliktberatung ausgeschert ist, als Rom das so wollte. Weil er durch viele Gespräche mit betroffenen Frauen zur Überzeugung gelangt war: Es ist besser, diesen Beratungsschein auszustellen, als Frauen in Not erst gar nicht zu erreichen.
Sei fest in deiner Überzeugung!
Bischof Kamphaus hat die Nöte der Frauen gesehen, und er wollte zugleich das ungeborene Leben schützen. Das war seine Überzeugung – und bei der ist er geblieben, gegen die Anweisungen aus Rom. Mutig fand ich das damals, ich hab ihn für seine Geradlinigkeit bewundert. Sich nicht verbiegen, bei dem bleiben, wovon ich überzeugt bin – das ist eine Haltung, die dieser Bischof Kamphaus als Erbe hinterlassen hat. „Sei fest in deiner Überzeugung“, rät auch schon der Weisheitslehrer Jesus Sirach in der Bibel (Sir 5,10).
Die Toten haben Einfluss auf mein Leben
Ein verstorbener Bischof, meine verstorbenen Eltern, die verstorbene Freundin: Es gibt viele Menschen, die mich mit ihren Überzeugungen und Haltungen geprägt haben. Was ich bin, bin ich auch durch sie. Und wenn ich mich jetzt im November an die Toten erinnere, dann hat das auch ganz viel Einfluss auf mein Leben.
Musik 5: Wilhelm Friedemann Bach, Fantasia d-Moll (CD: Tombeaux. Remembrances, Michael Dücker, Laute / Johanna Seitz, Harfe, Prospero / WDR The Cologne Broadcasts 2020, Track 1, 3.10)