Momo und die Zeit
„Alles liegt an Zeit und Glück“, sagt der Prediger in der Bibel (Prediger 9,11), und von beidem haben wir bekanntlich zu wenig. Unsere Zeit ist begrenzt, das Glück flüchtig, und oft jagen wir beidem nach, ohne es einzuholen. Nur heute nicht. Denn heute wird uns eine Stunde geschenkt. Die Uhren sind zurückgestellt. Vor uns liegt ein langer Tag. Ein Sonntag mit 25 Stunden. Was machen wir damit?
Im Herbst bekommt man die Stunde zurück, die im Frühjahr gestohlen wurde
Für mich ist der Tag der Zeitumstellung immer ein kleiner Feiertag. Ein Tag, den ich gern zelebriere. Jedenfalls diesen im Herbst. Denn heute bekomme ich zurück, was mir im Frühjahr verlorenging. Die eine Stunde, die mir da gestohlen wurde – heute bekomme ich sie wieder. Die Uhr wird zurückgedreht. Die Zeit wird erstattet, und ich werde belohnt. Die Rechnung geht auf, und ich liebe es, dieses Spiel mit der wiedergewonnenen Zeit jedes Jahr feierlich zu begehen. Wenn es möglich ist, mache ich heute keine Termine und treffe keine Verabredung. Ich muss mich nicht beeilen. Ich muss mich nicht sputen. Nirgends muss ich heute pünktlich sein. Einmal im Jahr lebe ich in den Tag hinein. Ich zerdehne die Zeit und mache diesen Sonntag zu dem, wofür er gemacht ist: zum Ruhetag.
Der Tag der Zeitumstellung - einmal Herr über eine Stunde sein
Der Tag der Zeitumstellung gilt natürlich für alle. In den Nachrichten wird ständig daran erinnert. Es soll ja keiner aus der Zeit herausfallen. Aber am schönsten ist es für mich, dass ich heute selbst entscheiden kann, wann der Moment gekommen ist, die Uhr zurückzudrehen. Mein Funkwecker weiß schon nachts um drei, dass von heute an wieder die Winterzeit gilt. Bei ihm läuft die Umstellung automatisch. Aber ich habe noch andere Uhren. Uhren, die von Hand zu bedienen sind. Und über diese Uhren kann ich heute selbst bestimmen. Das mache ich nicht nachts um drei. Und ich mache es auch nicht gleich am Morgen. Ich suche mir den Augenblick aus. Und wenn der Moment gekommen ist, dann drehe ich am Rädchen. Die Zeiger wandern zurück, und ich habe plötzlich die eine Stunde mehr, die mir sonst fehlt. Alles liegt an Zeit und Glück? Es fühlt sich jedenfalls gut an, einmal im Jahr Herr seiner Zeit zu sein.
Musik: Felix Mendelsohn Bartholdy, Ach wie flüchtig, ach wie nichtig, op. 30.2 (Vocalconsort Berlin, Bernd Stegmann - Dirigent, Stefan Göttelmann Orgel),
Momo und die Zeitdiebe
In der Bundesrepublik wurde die Zeitumstellung 1980 eingeführt. Da war ich noch ein Kind, aber schon vorbereitet: Dass man Zeit drehen und wenden, gewinnen und verlieren, sammeln, sparen und anderen wegnehmen kann, das wusste ich längst. Denn ich kannte „Momo“, das Kinderbuch von Michael Ende. Das Buch erzählt die Geschichte von dem kleinen Mädchen Momo. Es stellt sich den Zeitdieben in den Weg und bringt den Menschen die Zeit zurück, die die Diebe gestohlen haben. Diese Zeitdiebe heißen auch „die grauen Herren“. Denn sie tragen graue Anzüge, haben Gesichter wie Asche und sehen alle gleich aus. Sie bringen die Menschen dazu, immer mehr Zeit zu sparen und diese Zeit in der Zeit-Spar-Kasse einzuzahlen. In dieser Sparkasse wird die Zeit nicht nur aufbewahrt. Sie wird sogar gewinnbringend angelegt, und die Zeitsparer bekommen Zinsen. So lautet jedenfalls das Versprechen der grauen Herren. Sie tun so, als ob damit etwas gewonnen wär.
Jede Sekunde wird genutzt und die Freude am Leben geht verloren
Die Menschen sollen ihre Zeit in der Gegenwart sparen, um irgendwann in Zukunft das richtige Leben zu führen. Also fangen die Zeitsparer an, alles schneller zu machen: Sie reden schneller. Sie laufen schneller. Sie arbeiten schneller. Zugleich lassen sie alles weg, was ihnen Freude macht: Sie lesen nicht mehr. Sie singen nicht mehr. Sie feiern nicht mehr. Sie hören nicht mehr richtig zu, und sie haben keine Zeit, freundlich zu sein. Alles ist berechnet und verplant. Überall hängen Uhren, die kontrollieren, ob alle funktionieren und jede Sekunde genutzt wird.
Die Kinder leiden besonders unter dem Zeitsparen der Erwachsenen
Die Sache ist nur: die Rechnung geht nicht auf. Je mehr die Menschen sparen, desto weniger haben sie davon. Sie werden hastiger. Sie werden ungeduldiger und kälter. Die ersparte Zeit kommt nicht an, und das richtige Leben bleibt aus. Denn Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen, so heißt es im Buch. Und wenn das Herz erkaltet, fließt kein Leben hindurch, das wärmen kann. Am deutlichsten merken das die Kinder. Sie leiden besonders darunter, dass die Erwachsenen keine Zeit mehr haben und immer unfreundlicher werden. Die Kinder begehren dagegen auf. Doch ihr Protest bleibt ungehört. Woher kann da Hilfe kommen?
Musik: John Adams, A short ride in a fast machine (Hamburg Philharmonic Orchestra unter Ingo Metzmacher)
Meister Hora, der Verwalter der Zeit
Wenn keine Zeit mehr bleibt für Freundlichkeit und Wärme ‒ woher kann da Hilfe kommen? In dem Kinderbuch „Momo“ von Michael Ende kommt die Hilfe von Meister Hora. Meister Hora ist der Verwalter der Zeit, und er wohnt da, wo die Zeit zu Hause ist: im Nirgend-Haus in der Niemals-Gasse, in einem Raum voller Uhren. Meister Hora hat die Zeit nicht gemacht. Aber er weiß, wie sie tickt. Er weiß, wo sie herkommt. Er weiß, wo sie hingeht, und er weiß, wann sie glücklich macht und wann nicht. Er weiß zum Beispiel, dass man Zeit nicht festhalten kann. Man kann sie nicht sparen, und man kann sie nicht übertragen.
Jeder Mensch hat nur ein Leben
Jeder Mensch hat seine Zeit, und diese Zeit ist begrenzt. Jeder Mensch hat ein Leben, und dieses eine Leben kann nur von einem selbst gelebt werden. Was die Menschen mit ihrer Zeit machen, das entscheiden sie frei. Meister Hora mischt sich da nicht ein. Die Menschen entscheiden selbst, wie sie ihre Zeit gestalten. Sie müssen sie aber auch selbst verteidigen, meint Meister Hora. Nur im Fall der grauen Herren, da geht ihm die Sache doch zu weit. Denn es geht um die Kinder. Sie leiden besonders darunter, dass die Erwachsenen auf die Zeitdiebe hereingefallen sind und durch ihr Leben hasten, als gäbe es kein Morgen. Darum schickt Meister Hora Momo. Und tatsächlich gelingt es ihr, die grauen Herren zu vertreiben. Momo bringt den Menschen die Zeit zurück, und die Welt wird wieder warm und freundlich.
Momo - ein heute noch aktuelles Märchen
„Ein Märchen“, so hat Michael Ende sein Buch genannt und 1974 den Deutschen Jugendbuchpreis dafür erhalten. Fünfzig Jahre ist das her. Ein halbes Jahrhundert, und mehr als sieben Millionen Exemplare wurden bislang von diesem Buch verkauft. Weltweit. Wenn ich es heute wieder in die Hand nehme, bin ich erstaunt, wie aktuell es ist. Geradezu zeitlos. Nur: Hat es dann überhaupt etwas geändert? Zeit ist und bleibt ein knappes Gut. Sie reicht irgendwie nie und verstreicht gerade dann besonders schnell, wenn man sie ausnutzen will.
Verdichtete Zeit ist vernichtete Zeit
Heute erscheint die Zeit vielleicht sogar noch verdichteter als vor fünfzig Jahren. Die ganze Welt scheint enger vernetzt und rund um die Uhr erreichbar. Alles muss jetzt sein und sofort, und alles zugleich ‒ dieses Gefühl macht selten glücklich. Verdichtete Zeit ist vernichtete Zeit. Ist das nicht paradox? Die Menschen leben immer länger, aber die Zeit wird ihnen knapper. Es passen mehr Abläufe in einen Tag als früher, aber man gewinnt dadurch nichts. Das geht vielen Erwachsenen so. Aber längst auch den Kindern. Auch Kinder kennen schon Kalender, Zeitdruck und Freizeitstress. Kinder, die in den Tag hineinleben und Zeitdiebe vertreiben können ‒ ist das nicht eine recht romantische Idee? Ein Märchen eben, das an der Realität nichts ändert?
Musik: Robert Schumann, Ständchen (Nils Mönkemeyer - Viola)
Gott hat die Zeit erschaffen
In der Bibel ist es Gott, der die Zeit erschafft. Gleich am Anfang der Schöpfung setzt er Lichter an den Himmel. Mit ihnen unterscheidet er Tag und Nacht. Sonne, Mond und die Sterne ‒ sie sind die „Zeichen für Zeiten, Tage und Jahre“ (1. Mose 1,14), heißt es in der Schöpfungsgeschichte. Und tatsächlich: von nun an gibt es Struktur. Es gibt Helles und Dunkles. Es gibt Tage zum Arbeiten und einen Tag, um auszuruhen.
"Wer keine Zeit hat, braucht Struktur!"
„Wer keine Zeit hat, braucht Struktur!“ Diesen Satz habe ich im Theologiestudium gelernt. Ich war damals mit einem Seminar für eine Woche im Kloster, und das war für eine Studentin der evangelischen Theologie eher ungewöhnlich. Im Kloster sollten wir biblische Texte erkunden auf neue, spielerische Weise. Wir bekamen auch Aufgaben gestellt und sollten am Ende der Woche etwas abliefern können. Aber es fühlte sich doch anders an als in den Räumen der Universität. Konzentrierter und freier und weit weg vom Alltag.
Freies Arbeiten und nur feste Zeiten fürs Essen
Unsere Arbeit begann am Morgen. Sie streckte sich über den Tag, und auch abends trafen wir uns noch und lasen und übersetzten und diskutierten, wie diese alten Texte entstanden sind. Was sie bedeutet haben in ihrer Zeit und ob sie auch heute noch etwas zu sagen haben. Wir trafen uns dafür in Gruppen, und die Gruppen schwärmten aus. In den Kreuzgang, ins Dachzimmer, auf die Empore. Überall durften wir sein, uns ausbreiten und erproben. Nur eine Verabredung gab es. Und das waren die festen Zeiten fürs Essen. Die Mahl-Zeiten eben. Und vor jeder Mahlzeit sollten wir alle zusammenkommen und gemeinsam singen und beten. Das fanden wir nun eigentlich nicht nötig, aber wir begehrten auch nicht dagegen auf. Doch dann waren wir so vertieft, und die Arbeit mit den Texten machte so viel Spaß, dass wir einfach kein Ende fanden.
Struktur durch singen, beten und essen
Wenn der Gong zum Essen schlug, sprangen wir nicht gleich auf. Immer musste der Seminarleiter kommen und uns holen. Und jedes Mal sagten wir: „Wir sind noch nicht fertig! Wir brauchen noch Zeit!“ Wir versuchten, mit ihm zu verhandeln wie Kinder, die von ihren Eltern beim Spiel gestört werden: „Könnten wir nicht noch weitermachen? Nur ein paar Minuten. Wir könnten doch am Essen sparen. Oder am Gebet.“ – das schien uns ja ohnehin entbehrlich. Aber da machte uns der Leiter einen Strich durch die Rechnung: „Nein“, sagte er. „Wer keine Zeit hat, braucht Struktur. Und Struktur lernt man über das Beten.“ Er setzte sich durch, und wir folgten ihm nach und stellten uns zusammen um den Altar in der Klosterkirche. Und hier fanden wir plötzlich Ruhe. Wir mussten nichts mehr müssen. Wir mussten nichts mehr wollen. Wir standen einfach zusammen, und unsere Stimmen stiegen auf zum Singen und zum Beten.
Musik: Paul Heller, Psalm 23 (Sjaella)
Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen
„Wer keine Zeit hat, braucht Struktur!“ Wenn ich heute an den Seminarleiter zurückdenke, der mir diesen Satz mitgegeben hat, bin ich froh, dass er sich damals durchsetzen konnte. Offenbar wusste er, wie die Zeit tickt. Und er hatte den Mut, uns in unserem Eifer zu begrenzen. Wie wir unsere Arbeit gestalten, das konnten wir frei entscheiden. Da mischte er sich nicht ein. Das konnten wir alles selbst bestimmen. Nur als wir mit der Arbeit kein Ende fanden und versuchten, anderswo Zeit einzusparen, um immer weiter und weiter zu machen, da machte er sich zum Verwalter der Zeit und sorgte dafür, dass beides zum Zuge kommt: die Arbeit und das Gebet. Das schöpferische Tun und ein Moment der Ruhe. Denn Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen. Und ein lebendiges Herz braucht Pausen, wenn es nicht erkalten soll.
Sechs Tage Arbeit und einen Tag zum Ausruhen
In der Bibel ist es Gott, der die Zeit erschafft. Er setzt die Lichter an den Himmel. Er unterscheidet Tag und Nacht und schafft so eine wiederkehrende Struktur aus Zeiten und Tagen. Sechs Tage verbringt er mit seinem Schöpfungswerk. Dann hat alles seine Ordnung und kann sich verlässlich bewegen. Und dann ist es auch für Gott an der Zeit, von der Arbeit auszuruhen und eine Pause zu machen. Bis heute folgen wir diesem Rhythmus, von dem die Schöpfungsgeschichte erzählt, und unterscheiden sechs Werktage von einem Ruhetag.
"Der Sonntag ist ein Tag der Arbeitsruhe" - ist ds noch zeitgemäß?
Das ist nicht unumstritten. Es wird auch gar nicht überall umgesetzt, und es lässt sich auch nicht immer einhalten. Aber ich denke, die Idee ist wichtig, und sie ist sogar gesetzlich geschützt. Der Sonntag ist ein Tag der Arbeitsruhe, heißt es in unserem Grundgesetz. Und er wird gesetzlich freigehalten, damit wir uns seelisch erholen können. Manche halten das für einen Anachronismus. Für etwas also, was früher vielleicht einmal üblich war, was aber längst nicht mehr zeitgemäß ist und im Grunde abgeschafft werden könnte. Die Frage ist nur: Was ist zeitgemäß? Und was bedeutet es, der Zeit gemäß zu leben?
Momo geht nicht mit der Zeit, sondern rückwärts
In dem Kinderbuch von Michael Ende ist es wichtig, dass es einen Menschen gibt, der nicht mit der Zeit geht, und das ist Momo. Damit Momo die Zeitdiebe verscheuchen und den Menschen die Zeit zurückbringen kann, muss sie nicht mit der Zeit gehen, sondern rückwärts. Sie muss nicht schneller werden. Sondern langsamer. Sie macht eben nicht das, was alle machen. Sondern geht einer anderen Zeit gemäß, und diese Rechnung geht am Ende auf.
In einer geschenkten Stunde können Zeit und Glück zusammenfinden
So vielleicht stelle ich es mir auch vor für diesen Tag heute. Den Tag der Zeitumstellung, an dem wir die Uhren zurückdrehen. Nicht um sie als ersparte Zeit mit Zinsen zurückzubekommen. Sondern als eine geschenkte Stunde, in der ich ein bisschen mehr davon verstehe, wie die Zeit tickt. Dass sie sich nicht beliebig beherrschen und auch nicht endlos verlängern lässt. Nicht aufsparen und nicht übertragen. Jeder Mensch hat seine Zeit, und diese Zeit ist begrenzt. Jeder Mensch hat ein Leben, und dieses eine Leben kann nur von einem selbst gelebt werden. Und damit das gelingt, muss man nicht nur wissen, wie die Zeit tickt. Man muss auch wissen, wie man selber tickt und wie man seine Zeit gut verwaltet, auch wenn man sie nicht beherrscht. Das gelingt nicht immer, und es gelingt nicht 24 Stunden am Tag. Aber es gibt so Momente in einer geschenkten Stunde, da finden Zeit und Glück zusammen ‒ Gott sei Dank!
Musik: The Playfords, Ach wie flüchtig, ach wie nichtig
Quellen:
Ende, Michael: Momo oder Die seltsame Geschichten von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte. Ein Märchen-Roman, Stuttgart 1973.
Weinrich, Harald: Knappe Zeit. Kunst und Ökonomie des befristeten Lebens, München, 3. Auflage 2005.