Ihr Suchbegriff
Beitrag anhören:
Lieber leben statt vergleichen
Bild: Pixabay

Lieber leben statt vergleichen

Stefan Wanske
Ein Beitrag von Stefan Wanske, Katholischer Pfarrvikar im Pastoralraum Gießen-Stadt
Beitrag anhören:

Auf die Einladung, die jetzt vor mir liegt, habe ich schon gewartet: Dreißig Jahre sind seit dem Abitur vergangen. Das soll mal wieder etwas größer gefeiert werden, so schreibt das Vorbereitungsteam, wie zuletzt beim Silbernen Abitur vor fünf Jahren.

Ich gehe eigentlich ganz gern zu solchen Treffen: manche Weggefährtinnen und Weggefährten aus der Schulzeit hab ich viele Jahre nicht gesehen. Immer wieder hat es mich erstaunt, wie schnell trotzdem alte Vertrautheit wieder da war. 

Was ist denn eigentlich aus meinen eigenen Ideen geworden?

Ein Klassentreffen ist für mich immer wie eine Reise in die Vergangenheit, auf der ich frühere Freundinnen und Freunde wiedersehe, mit denen ich sonst im Alltag kaum noch Kontakt habe. Es interessiert mich schon: Was ist aus den Leuten von damals geworden? Manchmal sehe ich mich vorher schon mal in den sozialen Netzwerken um. Facebook oder Xing verraten von manchen Ehemaligen immerhin, wie sie selbst gerne gesehen werden wollen.

Am meisten fasziniert mich: Ich begegne Zeitzeuginnen und Zeitzeugen meiner eigenen Lebensgeschichte, und dadurch auch mir selbst. Ich frag mich dann: Was ist denn eigentlich aus meinen eigenen Ideen geworden? Und aus alledem, wie ich mir als junger Mensch meine eigene Zukunft und mein Leben vorgestellt hab?

Musik 1: Georg Friedrich Händel: „Ouverture“, aus: Concerto a due corni in F-Dur (HWV 334); CD 1/3: English Chamber Orchestra / Sir Charles Mackerras, „Ein geistliches Konzert“; Label sonatina (165074-21); Track 01, 01:46 

„Und, was machst du so?“

Für manche ist so ein Abend beim Ehemaligentreffen mit den Leuten aus der Schulzeit eine Riesengaudi. Andere kommen gar nicht erst. Schon vor Jahren hat mir mal ein Schulfreund erklärt, dass er auf solche „Bilanzierungsrunden in Gesellschaft“ absolut keine Lust hat.

Ich kann das verstehen. Die unvermeidliche Frage „Und, was machst du so?“ kommt tatsächlich manchmal ziemlich doppelbödig und übergriffig daher.

Sehr leicht wird so ein Treffen dann zu einer Art „Schaulaufen“: um Größe, um Ansehen, um materiellen Erfolg. Zuweilen geschieht das platt und für alle offensichtlich, meistens aber eher subtil und unbewusst. 

Das findet überall und auf allen Ebenen statt

Wer ist die Bessere oder der Schönere, wer ist erfolgreicher oder angesehener? Der Vergleich mit anderen, der Streit um die vorderen Plätze findet überall und auf allen Ebenen statt, wo Menschen zusammenkommen.

Ein alter Werbespot für eine Bank hat das schon vor Jahrzehnten mal treffend karikiert: Jemand klatscht seinem Gegenüber an einem vornehm gedeckten Restauranttisch triumphierend Fotos aufs Tischtuch: „Mein Haus, mein Auto, mein Boot...“ Das wurde für einige Zeit sogar zu einem geflügelten Wort.

Mehr Schein als Sein

Wohl die meisten Menschen streben danach, Anerkennung und Bewunderung zu erhalten, nicht nur beim Klassentreffen. Beruflicher Erfolg, persönliche Leistungen oder andere Errungenschaften gelten viel und sind ja auch nichts Schlechtes. Manchmal ist aber ein zweiter Blick wichtig, manchmal gilt auf dem gesellschaftlichen Parkett gerade für die demonstrativ glanzvollen Auftritte: „Mehr Schein als Sein“.

In den katholischen Gottesdiensten greifen die heutigen Bibellesungen diese Fragen auf: Auch in dieser Morgenfeier möchte ich heute dieser Spur folgen und habe die Musik danach ausgewählt.

„Ach, arme Welt, du trügest mich“

Johannes Brahms schuf im Sommer 1889 die geistliche Motette „Ach, arme Welt, du trügest mich“. Darin heißt es:

Ach, arme Welt, du trügest mich, / ja, das bekenn’ ich eigentlich,
und kann dich doch nicht meiden.

Du falsche Welt, du bist nicht wahr, / dein Schein vergeht, das weiß ich zwar,
mit Weh’ und großem Leiden.

Dein’ Ehr’, dein Gut, du arme Welt, / im Tod, in rechten Nöten fehlt,
dein Schatz ist eitel falsches Geld,
des hilf mir, Herr, zum Frieden. 

Musik 2: Johannes Brahms: Motette „Ach, arme Welt du trügest mich“ (aus: 3 Motetten, op.110); CD: Rupert Huber / Südfunkchor Stuttgart „Franz Schubert, german Mass / Johannes Brahms, 3 Motets op.110“, Label hänssler classic collector 91.106 (LC6047), Track 05, 02:13 

In den katholischen Gottesdiensten wird heute aus dem Markusevangelium eine Episode vorgelesen, die in der Tradition der „Rangstreit der Jünger“ genannt wird. Da ist Jesus mit seinen Jüngern unterwegs Richtung Kafarnaum. 

Irgendwie sind sie alle verlegen

Unterwegs unterhalten sich die Zwölf. Jesus hat während dieser Diskussion auf dem Weg anscheinend nichts gesagt. Aber als sie angekommen sind, ruft er sie zusammen und fragt sie: „Sagt mal, über was habt ihr euch denn auf dem Weg unterhalten?“. Erst mal will keiner so richtig mit der Sprache herausrücken. Irgendwie sind sie alle verlegen. Markus, der Evangelist schreibt: „Sie aber schwiegen; denn sie hatten auf dem Weg miteinander besprochen, wer der Größte sei.“

Sie setzen sich in einen Kreis. Jesus beginnt zu lehren – wie so oft im Sitzen. Die Bibel erzählt: „Er setzte sich, rief die Zwölf und sagte zu ihnen: Wer der Erste sein will, soll der Letzte von allen und der Diener aller sein. Und er stellte ein Kind in ihre Mitte, nahm es in seine Arme und sagte zu ihnen: Wer ein solches Kind in meinem Namen aufnimmt, der nimmt mich auf; und wer mich aufnimmt, der nimmt nicht nur mich auf, sondern den, der mich gesandt hat.“ (Markus-Evangelium 9,33-37)   

Weder Macht noch Status

Jesus schimpft mit seinen Jüngern nicht, weil sie von Größe träumen. Jesus greift ihre Gedanken nur auf und führt sie weiter:

Ein Kind könnte im Wettbewerb um den Posten des Größten nicht mithalten. Es kann auf keine besonderen Leistungen, Fähigkeiten oder sozialen Status verweisen. Jesus macht deutlich: All das, was uns im Alltag oft ach so wichtig ist, zählt vor Gott nicht. Weder Macht noch Status.

Und deshalb sollte all das auch unter den Jüngerinnen und Jüngern keine Rolle spielen. Auch nicht in der christlichen Gemeinde, für die Markus sein Evangelium schreibt. Ich höre darin die Warnung: Sieh nicht auf die anderen herab und blas dich selbst nicht auf! 

Das hast du doch gar nicht nötig

Wichtiger ist mir aber die befreiende Zusage darin: Du hast das gar nicht nötig. Du hast es nicht nötig, andauernd der Größte sein zu müssen; du musst bei diesem Wettbewerb nicht mitmachen, denn Gott hat dich schon angenommen. In Gottes Augen bist du schon längst wer!

Johann Sebastian Bach komponierte um 1715 in seiner Weimarer Zeit als Hoforganist eine Kantate für einen der Sonntage im Herbst. In einem Duett beschreibt er da, was es für ihn heißt, Gottes Kind zu sein.

In meinem Gott bin ich erfreut;
die Liebesmacht hat ihn bewogen,
daß er mir in der Gnadenzeit
aus lauter Huld hat angezogen
die Kleider der Gerechtigkeit.
In meinem Gott bin ich erfreut. 

Musik 3: Johann Sebastian Bach, Arie: „In meinem Gott bin ich erfreut“, aus: Kantate „Ach! Ich sehe, itzt, da ich zur Hochzeit gehe“ (BWV 162); CD: Holland Boys Choir / Netherlands Bach Kollegium: Bach Cantatas (Label Brilliant Classics (99377/3); Track 16, 04:22 

Will eine geschätzte Persönlichkeit sein

Manchmal geht es mir genauso wie den Jüngern Jesu unterwegs. Ich will gerne eine geschätzte Persönlichkeit sein. Ich mag es ja schon, wenn mein Wort bei den Leuten etwas gilt. Und hab gar nichts dagegen, bei passender Gelegenheit auch mal bewundert zu werden. Mir scheint, die meisten Menschen tragen die Sehnsucht in sich, wenigstens von Zeit zu Zeit mal den Ton anzugeben und die erste Geige zu spielen.

Im Freundeskreis Jesu und auch in der Zeit danach, in den ersten christlichen Gemeinden, für die Markus sein Evangelium schreibt, da war das mindestens genauso ausgeprägt wie heute. 

Immer auch Teil eines Wettbewerbs

Historikerinnen, Archäologen, Sprachwissenschaftlerinnen und Altphilologen erklären sogar: In der antiken Gesellschaft, da gab es praktisch im gesamten öffentlichen Leben eine ausgeprägte Wettkampfkultur. Man veranstaltete oft auch zu religiösen Festen viele große Sport-Events wie öffentliche Faustkämpfe, Wagenrennen und Regatten. Aber auch Dichter-, Tragöden-, Redner- und Philosophenwettbewerbe wurden ausgetragen. Sogar die Debattenkultur in den frühen Demokratien wurde besonders als ein Wettstreit um die bessere öffentliche Rhetorik betrachtet. Antike Philosophen haben schon lange vor Jesus immer wieder davor gewarnt, dass Sachkenntnis und inhaltliche Argumente dabei leicht auf der Strecke blieben, wenn es nur um den gelungenen Auftritt, ums Rechtbehalten und ums Gewinnen geht.

„Egal, was die Griechen taten“, so schreibt der Hildesheimer Kultur- und Sozialphilosoph Andreas Hetzel, „es schien immer auch Teil eines Wettbewerbs zu sein, eines Sich-Messens und eines Über-sich-Hinauswachsens in der Auseinandersetzung.“ 

Menschen bleiben dabei oft auf der Strecke

Das große Vergleichen und Bewundertwerdenwollen: Das gab‘s also schon bei den alten Griechen – und es ist uns heute noch so vertraut: Wir wollen immer mehr und möglichst das Beste aus uns herausholen. Durchschnitt ist eher verdächtig.

Im Alltag gelten Werte, die immer wieder beschworen werden, für die Menschen trainiert und beraten werden: Gewinnmaximierung, Effizienz, Selbstverwirklichung. Besser sein als die anderen, das kann ein ziemlich anstrengender Vollzeitjob werden. Schon Kinder werden heute gar nicht so selten unter unerbittlichen Leistungsdruck gesetzt. Sie sollen die besten Noten nachhause bringen, virtuos musizieren und am besten zugleich auch noch im Sport viele Pokale und Medaillen abräumen.

Die ständige Optimierung, der Drang nach „immer besser“ ist dabei ja nicht nur falsch. In der Wirtschaft und in der Technologie besteht darin für Unternehmen sogar eine wichtige Überlebensstrategie. Aber Menschen bleiben dabei oft auf der Strecke. Wer die eigene Erwartungshaltung immer noch ein wenig nach oben schraubt und immer wieder zur Hochform auflaufen muss, der verlernt leicht, den Augenblick zu genießen. Dabei geht schnell eine Menge Lebensqualität verloren. 

Auch die Musik ist eine wichtige Ermutigung

Sicher wäre es nun auch keine gute Idee, stehen zu bleiben und sich gar nicht mehr weiterzuentwickeln. Ich denke aber: Es geht insgesamt um einen gesunden und barmherzigen Umgang mit sich selbst.

Dafür ist mir die Botschaft des Evangeliums wichtig geworden: Wir alle sind Gottes Kinder; es gibt da keine Verwandten ersten und zweiten Grades.

Auch die Musik ist für mich eine wichtige Ermutigung und hilft bei der Erholung, wenn mir im Diktat der Beschleunigung und Selbstoptimierung die Luft auszugehen droht.

Für solche Zeiten schuf Andreas Hammerschmidt 1638 für seine „Musicalischen Andachten“ mit Versen aus dem biblischen Psalm 116 ein gesungenes Gebet: „Sein nun wieder zufrieden, meine Seele, denn der Herr tut dir Gutes. Halleluja.“ 

Musik 4: Andreas Hammerschmidt: „Sei nun wieder zufrieden, meine Seele“; CD:  Himmlische Cantorey / Knabenchor Hannover / Johann Rosenmüller Ensemble / Jörg Breiding: „Verleih uns Frieden. Geistliche Vokalmusik von Andreas Hammerschmidt“, Label Rondeau (ROP7001/LC06690), Track 12, 02:04 

Nicht andauernd immer mehr aus sich herauszuholen, sich zufrieden geben mit vielleicht nur mittlerem Erfolg und Ansehen, und vor allem das dankbar zu würdigen, was schon ist: Das scheint nicht so recht in unsere Zeit zu passen. Ganze Industriezweige leben vom Selbstverbesserungsbetrieb: Coaching, Schönheitsbehandlungen, persönliche Stilberatung und sogar Apps für den optimalen Stoffwechsel. 

Groß ist der, dem andere nicht egal sind

Als die Jünger darüber streiten, wer unter ihnen wohl der Größte ist, da stellt Jesus im Markusevangelium ein kleines Kind in die Mitte. Das stellt die Vorstellungen seiner Zeit und seiner Jünger ziemlich auf den Kopf. „Wer der Erste sein will, soll der Letzte von allen und der Diener aller sein.“ Offen, unbefangen, spontan, begeisterungsfähig wie Kinder zu werden und dankbar zu sein, ohne ständig zu vergleichen: Das ist eine gute Alternative.

Groß ist dann nicht der, der reich ist, der sich tolle Kleider leisten kann, ein teures Auto fährt, der einen guten und angesehenen Posten hat, der immer umjubelt wird, zu dem alle aufsehen müssen; groß ist vielmehr der, der auch das Kleine sieht und es nicht verachtet. Das heißt: groß ist der, dem andere grundsätzlich nicht egal sind.

Groß sein wollen, Erster sein wollen, das ist menschlich – aber der Maßstab muss passen. Konkret heißt das für mich: Lieber leben statt vergleichen. Den eigenen wie den fremden Fehlern und Macken mit Nachsicht und einer Prise Humor begegnen, mich nicht allzu wichtig nehmen und eine gute Beziehung zu mir selbst und zu anderen aufbauen. Denn: Nicht perfekt ist auch OK. 

Musik 5: Orgelchoral „Meine Seele erhebet den Herrn“ (BWV 648); CD 11/12: Helmut Walcha, „Bach. The Organ Works.“, Label Polydor International GmbH (463 723-2); Track 08, 01:50
 

Weitere ThemenDas könnte Sie auch interessieren