Die Gedanken sind frei. Die Rede auch!
Wem manchmal der Mut fehlt, frei die Meinung zu äußern, bekommt hier Beispiele und Argumente fürs freie Wort, von der Bibel bis heute. Das Ziel: Ich stehe zu mir selbst und tausche mich mit Respekt aus, zu gesellschaftlichen Fragen und solchen des Glaubens. Gestaltet wird diese hr2 Morgenfeier ökumenisch von Pfarrerin Anne Helms und Pater Ansgar Wucherpfennig, beide Frankfurt am Main.
Zum Foto: Es spricht Yolanda Renee King, Enkelin von Martin Luther King, der ein großer Redner war und unbequeme Wahrheiten aussprach. 2022 redet seine Enkelin in Washington vor Tausenden Menschen gegen Waffengewalt. Dieses Foto können wir Ihnen aus Rechtegründen bis Ende Oktober 2024 zeigen.
Das Lied der demokratischen Bewegungen: Die Gedanken sind frei
Ansgar Wucherpfennig:
"Die Gedanken sind frei" heißt ein Volkslied. Verbreitet haben das Lied die Freiheitsbewegungen und demokratischen Kräfte in Deutschland Anfang des neunzehnten Jahrhunderts. Wo Menschen unterdrückt wurden, haben es Menschen gesungen. Oder auch nur die Melodie gespielt, weil diese Worte zu den freien Gedanken gefährlich waren: Kein Mensch kann sie wissen, kein Jäger sie schießen. Es bleibt dabei, die Gedanken sind frei.
Jeder hat das Recht, seine Meinung frei zu äußern
Die Aussage gefällt mir: Meine Gedanken kann mir niemand verbieten. Selbst wenn ich eingesperrt würde, bleiben meine Gedanken frei. Aber darauf allein kommt es nicht an. Es ist wichtig, die eigenen Gedanken auch frei aussprechen zu dürfen. „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern (…).“ So beginnt Artikel 5 im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Das steht allen Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland zu. Nur wer sich öffentlich gegen die Verfassung und die Ordnung des Zusammenlebens äußert, kann das Recht der Meinungsfreiheit verwirken. Auch der Schutz der persönlichen Ehre Anderer und der Schutz der Jugend schränken das Recht auf Meinungsfreiheit ein.
Redefreiheit ist biblisch eine Gabe Gottes
Im antiken Griechenland hat es für die Redefreiheit ein eigenes Wort gegeben: Parrhesia. Das bedeutet wörtlich so viel wie: alles sagen zu können. Erstaunlich ist: Das Wort kommt auch in der Bibel vor, besonders oft in der Apostelgeschichte. Auch dort meint es die Freiheit, offen zu reden: in der Gesellschaft, in der Kirche und auch im privaten Raum. Für die Apostelgeschichte ist Parrhesia eine Gabe Gottes. Aber mit dieser Gabe Gottes ist es gar nicht so leicht. Ich fühle mich nicht immer frei, meine Meinung zu sagen, und manchmal habe ich auch einfach nicht den Mut dazu.
Anne Helms:
Immer weniger Menschen in Deutschland haben das Gefühl, ihre Meinung frei äußern zu können. Das zeigt eine Umfrage.[1] Obwohl die Meinungsfreiheit im Grundgesetz festgeschrieben ist, denkt mehr als jeder Zweite, dass er aufpassen muss, was er sagt. Damit steht die gefühlte Meinungsfreiheit seit den 50er Jahren auf dem Tiefstand. „Frei von der Leber weg“ reden oder „das Herz auf der Zunge tragen“ – das überlegen sich viele heute. Angesagt ist: erstmal darüber nachdenken, was ich dem anderen zumuten kann. Das ist an sich kein schlechter Gedanke, Worte zu wägen, bevor ich sie ausspreche.
Ein wirkliches Gespräch entsteht im offenen Austausch
Aber wenn ich nichts sage, weil ich mich angreifbar mache, oder Stress und Mühe befürchte, bleibt die freie Meinungsäußerung auf der Strecke. Meine Erfahrung ist: Nur da, wo offen und unerschrocken miteinander geredet wird, entsteht ein wirkliches Gespräch. Ich komme weiter, wenn nicht nur meine Gedanken frei sind. Sondern wenn ich sie auch aussprechen kann. Natürlich dann auch meine eigenen Gedanken in Frage stellen lasse. Dann kommt Neues hinzu. Ich kann mich daran reiben, und vielleicht reift eine neue Idee. Das kostet Kraft und Zeit. Aber wenn ich vor allem darauf aus bin, mich bestätigen zu lassen, dann bleibt alles beim Alten.
Athen, die Stadt der Redefreiheit
Ansgar Wucherpfennig:
Ein Ort, der schon früh in seiner Geschichte mit der Freiheit zu Denken und zu Reden verbunden ist, ist Athen. Die Stadt der Philosophie und der ältesten Demokratie der Welt. Auch Paulus, der Apostel und Lehrer der frühen Christen, hat diesen Ort besucht. Vor einem Jahr sind wir auf seinen Spuren mit einer kleinen Gruppe dorthin gereist. Von einer Dachterrasse bot sich ein gigantischer Blick über die Dächer Athens hoch zur Akropolis und zum Areopag. Zu Fuß durch die Stadt erlebten wir viel von dem Flair, den es schon in der Antike gab, als Paulus in Athen unterwegs war. In Athen kamen damals viele Menschen aus unterschiedlichen Kulturen zusammen. So ist es noch heute. Athen ist eine Multi-Kulti-Stadt geblieben mit vielen Cafés und öffentlichen Plätzen. Das Leben spielt sich auf der Straße ab. Versetzen wir uns auf die öffentlichen Plätze zur Zeit des Paulus – nach der Musik.
Musik: Ahoar, Raqes
Debatten auf dem antiken Hügel
Anne Helms:
Athen war schon in der Antike ein Ort der öffentlichen Rede. Auf der Pnyx, einem Hügel westlich der Akropolis, haben sich in antiken Zeiten wöchentlich 6000 Männer getroffen, um alles zu diskutieren, was in der Öffentlichkeit wichtig war: Fragen des Kultes und der Versorgung und Sicherheit Athens, politische Debatten und Festlegung der Steuern. Keine Frauen, keine Fremden und auch keine Sklaven durften dabei sein. Aber jeder Erwachsene, männliche freie Bürger Athens konnte in der Versammlung öffentlich reden. Das nannte man Parrhesia, übersetzt Redefreiheit: Jeder Bürger hatte die Freiheit, öffentlich alles zu sagen. Ein Herold eröffnete die Volksversammlung mit der Frage: „Wer will sprechen?“ Und jeder Bürger durfte daraufhin mit der gleichen Autorität vor der Versammlung auftreten. Auf der Pnyx wurde sozusagen amtlich und organisiert diskutiert. Und auch auf den Marktplätzen der Stadt ging es hoch her. Dort eher spontan und direkt.
Paulus, der Apostel, bringt neue Gedanken nach Athen
Ansgar Wucherpfennig:
Auch Paulus hat die Diskussionsfreude der Menschen in Athen und ihre Liebe zur Weisheit gespürt. Denkerinnen und Denker kamen zu seiner Zeit aus vielen Ländern der Welt dorthin. Auf den Plätzen und Straßen traf er aber auch Beterinnen und Beter mit vielerlei Opfergaben. Athen war ein Schmelztiegel von Wirtschaft und Kultur, Religion und Gesellschaft. Über alles erhaben war die Akropolis, der Burgberg. Er war der Stadtgöttin Athene geweiht. Daneben der Areopag, der Gerichtsplatz, auf dem sich die Menschen vor dem Gesetz verantworten müssen. Auf diesem Platz ist auch Paulus aufgetreten, der Apostel. Er hat nach Athen neue Gedanken gebracht, die in den folgenden Jahrhunderten immer mehr Menschen begeistert haben.
Musik: Poco Piu, Feel good
Paulus erzählt vom unbekannten Gott
Anne Helms:
Wir sind im 1. Jahrhundert nach Christi Geburt. Mitten in die bunten Menschenmengen in Athen ist Paulus gekommen. Paulus nutzte das Recht, in Athen frei zu sprechen. Er war Jude und erzählte von dem einen Gott Israels. Er war Anhänger von Jesus Christus. Paulus sah in Jesus den Messias. Er verbreitete die Botschaft: Die Menschen hatten Jesus gekreuzigt. Doch Gott hat ihn von den Toten auferweckt. Gott schenkt den Menschen durch Jesus den Weg zu einem erfüllten Leben – sogar über den Tod hinaus.Man nimmt an, dass Paulus ein leicht erhitzbares Gemüt hatte. Jedenfalls berichtet die Apostelgeschichte, dass Paulus Anstoß genommen hat an dem, was er dort sah. Die Athener und ihre Gäste opferten in den Tempeln vielen Göttern.
Diskussion mit den antiken Philosophen und den Leuten von der Straße
Noch heute kann man einiges von diesen Tempeln in Athen sehen. Bei unserem Besuch mit einer Gruppe in Athen haben wir ihren ebenmäßigen Bau und ihre hochragenden Säulen bewundert. Paulus haben sie offenbar nicht beeindruckt. Jedenfalls hat ihre Erhabenheit ihn nicht gehindert, frei seine Meinung zu sagen. Er unterhält sich mit Juden und frommen Menschen auf der Agora, auf den Plätzen und Straßen, mit den Philosophen der wichtigsten Denkrichtungen seiner Zeit, Epikuräern und Stoikern. Paulus spricht Menschen an, stellt Fragen, äußert seine Skepsis zu ihren Meinungen, stimmt ihnen zu oder merkt seine Kritik an. Das erinnert an den wohl berühmtesten Bürger Athens, den Philosophen Sokrates, der vierhundert Jahre vor Paulus in Athen wirkte. Wie es von Sokrates überliefert ist, so tritt auch Paulus in Athen auf. Er trägt nicht einfach eine Lehre vor, sondern geht mit den Menschen ins Gespräch. So wie Sokrates muss sich auch Paulus rechtfertigen. Denn bald wird Paulus vorgeworfen, er würde neue Gottheiten einführen und die Menschen von den Göttern Athens abspenstig machen.
Paulus' berühmte Aeropag-Rede
Ansgar Wucherpfennig:
Paulus verteidigt sich gegen die Vorwürfe. Seine Verteidigungsrede ist vielleicht Paulus‘ berühmteste Rede. Sie heißt Areopag-Rede nach dem Ort, an dem er gesprochen hat, auf dem Areopag-Hügel. Da, wo das Gericht getagt hat. Die Rede ist eine Art öffentliches Zwiegespräch mit seinen Zuhörern. Bei unserem Besuch in Athen haben wir gesehen: Paulus‘ Rede ist dort auf Griechisch in den Felsen des Areopaghügels eingeschrieben. Tausende Touristen gehen dort täglich vorbei. Diese Rede ist kein langweiliger Lehrvortrag mit Antworten auf Fragen, die keiner gestellt hat. Die Leute sind beim Gespräch mit ihm neugierig geworden. Sie fragten: „Was ist das für eine neue Lehre, die du da vertrittst? Können wir mehr darüber erfahren? Was du uns erzählst, klingt in unseren Ohren sehr fremd. Wir würden gerne wissen, was es damit auf sich hat.“(Apostelgeschichte 17,19b-20)
In Gott leben wir, bewegen wir uns und sind wir
Paulus beginnt seine Rede so: "Einem unbekannten Gott." Diese Inschrift hatte Paulus auf einem Altar gelesen. Solche Altäre sind aus antiken Quellen bekannt. Sie wurden unbekannten Göttern geweiht, weil man keine Gottheit übergehen wollte. Man fürchtete, dass man sich sonst vor dieser Gottheit schuldig machte. Daran knüpft Paulus an. Angstfrei verkündet Paulus in Athen: "Gott wollte, dass die Menschen nach ihm suchen, ob sie Gott vielleicht spüren oder entdecken können." Denn der Gott, den Paulus verkündet, ist keinem Menschen fern (Apg 17,27). Paulus nimmt die Sprache seiner Zuhörer auf, ihre Dichtung und Literatur. Paulus sagt: „In Gott leben wir, bewegen wir uns und sind wir; wie auch einige von euren Dichtern gesagt haben: Wir sind von seinem – also: von Gottes – Geschlecht.“ (Apg 17,28)
Achtsam für die Zuhörerinnen und Zuhörer
Paulus nimmt kein Blatt vor den Mund, aber er stellt sich auf eine Stufe mit seinen Zuhörerinnen und Zuhörern. Auch er ist einer, der wie sie immer wieder neu nach Gott auf der Suche ist. Das nennt die Bibel Parrhesia, Redefreiheit, und gibt dem Wort eine neue Deutung. Für die Apostelgeschichte ist Parrhesia eine Gabe Gottes, denn sie meint nicht nur das Recht, frei zu sprechen, sondern achtsam auf die Zuhörerinnen und Zuhörer zu sein, und dennoch den Mut zu haben, zu sagen, was man glaubt und denkt, und dabei auch die Konsequenzen zu tragen.
Anfeindungen sind möglich - Mut auch
Anne Helms:
Paulus hat keine Angst, vor Menschen offen zu sprechen. Auch nicht davor, offen über Gott zu sprechen. Er wusste, dass er damit nicht nur Beifall erntet. Dadurch setzt er sich Kritik aus, vielleicht sogar Hass und Häme. Und trotzdem schafft er es, von seinem persönlichen Glauben zu erzählen und gleichzeitig als Apostel aufzutreten, also als Gesandter Jesu Christi. Natürlich ist es ein weiter Weg von der antiken Stadtgesellschaft unter römischer Besatzung bis zum demokratischen Gemeinwesen heute. Doch selbst heute braucht es Mut, in der Öffentlichkeit seine eigene Meinung zu äußern. Heute reden vor allem Politikerinnen und Politiker in der Öffentlichkeit. Es ist selbstverständlich, dass sie damit nicht immer nur Beifall ernten. Nicht selbstverständlich sind Anfeindungen, besonders in den sozialen Medien. Und sogar mancherorts Gewalt.
Ein Oberbürgermeister redet gegen Rassismus und für die Demokratie
Ich habe Mike Josef befragt. Er ist Oberbürgermeister von Frankfurt am Main. Er hält viele Reden in der Öffentlichkeit. Eine davon ist mir noch gut in Erinnerung. Vor zehntausenden Menschen sprach er auf dem Römerberg in Frankfurt gegen Rassismus und für Demokratie. Er sagte uns, ihm ist wichtig, so wörtlich „dass ich nicht vergesse, dass ich als Oberbürgermeister spreche, aber auch als Mensch und Bürger dieser Stadt. Ich repräsentiere und lasse dabei aber auch immer ein Stück weit mein eigenes Erleben mit einfließen.“ Und er ergänzt: „Es ist ein besonderes Gefühl, (…) wenn ich die Zuhörerinnen und Zuhörer erreiche und mir die Leute hinterher sagen, ich bin zwar nicht in allem Ihrer Meinung, aber was Sie gesagt haben, war interessant. So entsteht Auseinandersetzung und Verbindung. (..) Wir sollten immer bereit sein, in der Sache zu streiten, aber uns dabei persönlich respektieren.“ Soweit Mike Josef.
Was von mutigen Sprechern zu lernen ist
Nun habe ich die Berichte von Paulus in Athen gehört, wie er dort gesprochen hat, seine Rede auf dem Areopag. Und ich habe das Gespräch mit Mike Josef im Ohr. Ich finde: von beidem kann ich eine Menge lernen, was eine Rede und ein öffentliches Gespräch brauchen. Zum einen: Wenn jemand in der Öffentlichkeit seine Meinung vertritt, setzt er sich aus. Zum anderen: Es braucht das Wohlwollen der Zuhörerinnen und Zuhörer. Ich muss verstehen wollen. Ich darf mich nicht von der Meinung eines Anderen bedroht fühlen, sondern sollte sie eher als Bereicherung empfinden. Und schließlich: ich selbst muss meine Wahrheiten mit Argumenten vertreten können. Einfach nur zu sagen: Ich sehe das halt so! Oder: so empfinde ich das! – daraus kann keine Diskussion entstehen.
Offen und frei zu sprechen ist nicht einfach - das hilft
Ansgar Wucherpfennig:
Als Christ finde ich wichtig, dass ich zu dem stehe, was ich sage. Nicht nur meine Gedanken sollen frei sein, sondern auch, was ich spreche. Dennoch finde ich es auch nicht immer einfach, dass ich meine Meinung vertrete. Zu meinem Beruf gehört es, vor größeren Gruppen sprechen. Am Anfang musste ich mich dafür ziemlich überwinden, und auch heute noch fällt es mir manchmal noch schwer. Aber nicht nur in größeren Gruppen: Offen und frei zu sprechen, kann auch schon in kleineren Gruppen nicht einfach sein, manchmal sogar im Gespräch zu zweit:
Wenn alle anderen einer Meinung sind und denken, sie sind im Recht, dann kann ich mit meinen Positionen schnell ganz allein dasitzen. Dann wird es unangenehm, dass ich darüber spreche. Ich brauche gute Argumente und überlege mir zweimal, ob ich mich wirklich mit meiner Meinung herauswage. Dabei kann es gerade dann wichtig sein, dass ich nicht zu schnell den Kopf einziehe. Es ist ja nicht so, dass die Meinung der Mehrheit immer gleich die richtige ist.
Die Wahrheit zu sagen ist ein Freundschaftsdienst
Ähnlich schwierig ist es, wenn ich Menschen etwas sagen will, das sie konfrontiert. Also jemanden ein Problem vor Augen stelle, etwas vermutlich Unangenehmes sage, Dann fürchte ich, ich könnte mein Gegenüber beleidigen oder, dass mein Gegenüber mit einer Retourkutsche aufwarten wird. Aber ein freies Wort oder eine kritische Rückfrage kann auch ein echter Freundesdienst sein. In der Familie, unter Geschwistern oder Freunden ist es gerade wichtig, offen miteinander zu sprechen.
Schuld aussprechen macht das Herz leicht
Erst recht kann es schwer sein, offen zu sprechen, wenn es um Fragen von Schuld geht. Wenn ich mich für etwas schäme, das ich getan habe, fühle ich mich beklemmt. Es ist, als hätte ich einen schweren Stein in meinem Herzen, und manchmal trage ich ihn lange mit mir herum. Dabei kann es befreiend sein, darüber zu sprechen. Ich habe schon erlebt, dass ein solches Gespräch wieder neu aufleben lässt. Es fühlt sich dann an wie die frische Luft nach einem Sommerregen.
Musik: Máximo Diego Pujol, Suite Buenos Aires, III. San Telmo (Sabine Dreier, Flöte; Rudolf Klemisch, Guitarre)
Wer sich traut, die Wahrheit zu sagen, stiftet Gemeinschaft
Ansgar Wucherpfennig:
Vor manchen Gesprächen und öffentlichen Reden denke Tage ich vorher darüber nach. Ich lege mir die Worte sorgfältig zurecht, oder ich warte länger auf die richtige Situation. Wenn ich dann spreche, zittert mir manchmal die Stimme. Bei Versammlungen habe ich schon erlebt, dass mir beim Sprechen sogar die Knie weich werden. Es ist nicht einfach nur ein Grundrecht, dass ich meine Meinung sage. Es braucht auch meinen Einsatz, meine Entschlossenheit, meinen Mut. Es kann mir Gänsehaut machen, mein Herz schneller schlagen lassen und manchmal sogar auch Tränen fließen lassen. Und dennoch: Auch wenn es mir nicht immer leichtfällt, ich erlebe es als befreiend, das zu sagen, wozu ich stehen kann. Es macht mich zugänglicher, verstehbarer, auch angreifbarer, aber vor allem: menschlicher. Denn dabei merke ich: Ich bin mehr ich selbst, wenn ich für meine Meinung einstehe, gleich ob im Gespräch mit einem Freund, in einer Sitzung oder in einer großen Versammlung. Deshalb kann ich verstehen, dass Parrhesia, also die Freiheit der Rede, für die ersten Anhängerinnen und Anhänger Jesu nicht einfach nur ein politisches Recht war, sondern eine Gabe Gottes. Wenn Menschen frei und offen aussprechen, was sie bewegt, stiftet es Beziehung. Freie Rede schweißt Menschen zusammen, lässt Freundschaft entstehen und Liebe wachsen. Das ist ein Geschenk Gottes.
Wer sich öffnet, hilft anderen, ebenfalls zu sich zu stehen
Anne Helms:
Wir erleben dieses Geschenk Gottes sonntagsabends in einem Freundeskreis immer mal wieder: Offen reden lässt Freundschaft und Liebe wachsen. Ich habe mir vorgenommen: Ich will mich mutiger riskieren beim Sprechen. Ich will versuchen, deutlicher und klarer zur Sache zu reden und dabei auch meine Gefühle nicht außen vorzulassen. Ich habe die Erfahrung gemacht: Fange ich damit an und vertraue darauf, dass die anderen mir wohlwollend zuhören, öffnen die sich auch und es entsteht ein gutes Gespräch. Ich glaube, das ist eine gute Übung, auch in der Öffentlichkeit zu sagen, was ich denke und dazu zu stehen. Das muss ja nicht wie bei dem Bürgermeister Mike Josef vor Zehntausenden sein oder wie der Apostel Paulus auf dem Areopag. Aber den Mund aufmachen und von meinen Hoffnungen erzählen, das wird mir immer wichtiger. Ich will zu meinem Glauben stehen. Und dann kann es passieren, dass ich auch mal so etwas wie ein Glaubensbekenntnis ablege. Vielleicht sage ich dann so etwas wie:
Ein Glaubensbekenntnis
Ja, ich glaube an Anfänge, die sich anders fortsetzen, als ich es erwartet habe, weil Gott mich ungeahnte Wege führt.
Ja, ich glaube, dass Gott an mich glaubt und es gut mit mir meint. Und auch mit dem Rest der Welt. Er lässt uns nicht auf den Abgrund zurasen.
Ja, ich glaube, dass Gott unsere Nähe sucht und an den Rändern nach uns ruft.
Ja, ich glaube am Ende wird alles gut, weil Gott rettet.
Ich will dabei nicht andere mit meiner Meinung manipulieren, sondern mich mit meiner Sicht auf die Wahrheit anderen aussetzen. Und hoffen, dass andere auch ihre Gedanken frei aussprechen.
Musik: Kurt Atterberg, aus Suite Nr. 7, Grazioso (Camerata Nordica unter Ulf Wallin)
[1] In: Die ZEIT online vom 19.12.2023, nach: Institut für Demoskopie Allensbach und Medienforschungsinstut Media Tenor