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Was mache ich, wenn ich bete?
Bild: Pixabay reenablack

Was mache ich, wenn ich bete?

Tina Oehm-Ludwig
Ein Beitrag von Tina Oehm-Ludwig, Evangelische Pfarrerin, Versöhnungskirche-Matthäuskirche Fulda
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„Ertappt!“ – ich wurde beim Beten „ertappt“. Es war in der Schule, nach dem Religionsunterricht, kurz vor den Sommerferien. Gerade hatte ich die Kinder in die große Pause verabschiedet und brauchte noch einen Moment Ruhe. Die Religionsstunde war anstrengend gewesen und der gleich folgende Termin würde es ebenfalls werden.

Was machst Du da?

So legte ich den Kopf auf die gefalteten Hände, die Ellenbogen auf das Lehrerpult gestützt – und betete. Bis eine leise Kinderstimme neben mir fragte: „Was machst du da?“ Nachdem ich mich vom ersten Schreck erholt hatte, antwortete ich: „Ich bete!“ „Ach so“, sagte das Mädchen und hüpfte im nächsten Moment schon wieder zur Tür heraus. Vielleicht weil sie mich beim Beten nicht „stören“ wollte. Oder weil sie das bei ihrer Religionslehrerin, die gleichzeitig Pfarrerin ist, nicht weiter überraschte. Oder weil ihre Neugier schlichtweg befriedigt war.

Die Frage des Mädchens beschäftigt mich

Ihre Frage „Was machst du da?“ war allerdings nicht so schnell wieder verschwunden. Sie begleitete mich. „Was mache ich eigentlich, wenn ich bete?“, fragte ich mich immer wieder. Einige Antworten habe ich seitdem gefunden. Von ihnen erzähle ich nach der Musik.

Felix Mendelssohn: Lieder ohne Worte op. 19b: No. 4 in A-Dur

Spreche ich beim Beten mit Gott oder zu Gott?

„Was mache ich eigentlich, wenn ich bete?“ Ich spreche mit Gott – so meine spontane Antwort. Aber wenn ich ehrlich bin, muss ich mich im nächsten Moment schon fragen: Ist das tatsächlich so? Spreche ich wirklich mit Gott? Müsste ich nicht eher sagen: Ich spreche zu Gott? Ich bin mir nicht ganz sicher, ob mein Gebet tatsächlich ein Gespräch mit Gott ist – etwas, wo beide Seiten zu Wort kommen. Vielleicht ist mein Gebet eher ein Monolog. Denn zu Wort komme eigentlich nur ich selbst.

Beten nach Vorbild in der Bibel

Das, was ich Gott sage, gehört ganz wesentlich zum Beten dazu. Ich rede mir meinen Kummer und meine Sorgen von der Seele. Das tut mir gut, fühlt sich richtig an. Die Beter der Psalmen machen es mir vor. Ich bringe im Gebet auch meine Bitten, meine Fragen und meine Zweifel vor Gott. Jesus selbst hat das so gemacht. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“, ruft er in den Himmel über Golgatha. Und schließlich gebe ich im Gebet meiner Freude und meinem Dank Ausdruck. Immerhin. Auch das hat in meinem Gebet seinen festen Platz. Aber danach, nach meinem Reden, kommt in der Regel das „Amen“.

Nicht auf Antwort warten

Nach meinem Reden ist Schluss. Ich warte nicht ab, ob da noch etwas kommt – von Gott. Auch zwischendurch schweige ich selten. Ich lasse keinen Raum für das, was Gott mir direkt antworten könnte oder was er mir – einfach so – einmal sagen möchte.

Untrainierte Ohren?

Es sei denn, ich bin in großer Not. Dann schleudere ich Gott meine Sorgen und Nöte entgegen und warte – nicht selten mit angehaltenem Atem – auf seine Antwort. Ich höre angestrengt in die Stille hinein, was Gott mir zu sagen hat. Und bin enttäuscht, wenn dies allem Anschein nach „nichts“ ist. Schweigt Gott tatsächlich? Oder sind meine Ohren vielmehr zu untrainiert, um ihn wahrzunehmen? Untrainiert, weil ich in meinen Gebeten viel zu selten schweige und hinhöre. Weil ich viel zu schnell „Amen“ sage.

Meine Gottes Antwort zu kennen

Außerdem meine ich ja, Gottes Antwort schon zu kennen. Oft habe ich sie mir schon zurechtgelegt. Ich weiß ja, was ich von ihm will. Ich weiß, was gut für mich ist, was meiner Meinung nach geschehen soll und wie seine Hilfe auszusehen hat. Gott muss eigentlich nur noch das tun, was ich selbst nicht tun kann. Von dem ich aber sehr genau weiß, was es ist. Da brauche ich dann nicht mehr abzuwarten, was Gott selbst mir zu sagen hat. Da brauche ich nicht mehr zu schweigen und hinzuhören. Da sage ich kurzerhand „Amen“: So sei es. Doch so bleiben meine Ohren untrainiert. Und mein Gebet ist kein wirkliches Gespräch, kein Reden mit Gott.

Ohren trainieren üben

Aber das kann und will ich üben, und zwar so: Ich mache, während ich rede, immer mal wieder eine Pause und schweige. In dieser Pause höre ich mich um und entdecke, was alles da ist an Geräuschen, Klängen und Gedanken – neben mir und in mir. Ich frage mich, ob sich davon etwas „nach Gott“ anhört. Vielleicht ein Gedanke, der mir vorher noch nie gekommen ist. Oder ein Bibelwort oder ein Liedvers, der wie aus dem Nichts auftaucht. Oder das Zwitschern eines Vogels, das mir das Herz leicht macht und mir zu zuzurufen scheint: „Du schaffst das!“

F. Mendelssohn, Lieder ohne Worte op. 38: No. 6 in As-Dur

„Das Gebet ist eine Tat“

Was mache ich noch, wenn ich bete? Ganz einfach: Ich mache etwas. Ich tue etwas, und zwar etwas ganz Wesentliches. Es hat einmal jemand gesagt: „Das Gebet ersetzt keine Tat. Aber das Gebet ist eine Tat, die durch nichts anderes ersetzt werden kann.“ Manch älterer Mensch ist traurig, weil er scheinbar nichts mehr machen kann – nichts von dem, was sein Leben einmal ausgemacht hat, was es geprägt und ihm so viel Sinn und Erfüllung gegeben hat. Die Kräfte haben nachgelassen. Alles ist mühsam geworden oder ganz und gar unmöglich.

Welt braucht die Betenden

Viele übersehen dabei: Das Beten geht noch! Es geht jetzt sogar erst recht! Auf einmal ist Zeit dafür da. Auf einmal ist die nötige Ruhe da. Und nicht selten sind die sonst so müden Augen und Ohren beim Beten ganz scharfsichtig und hellhörig. Ja, das Gebet ist wirklich eine Tat, die durch nichts anderes ersetzt werden kann und die unsere Welt dringend braucht.

„Das Gebet ersetzt keine Tat.“

Der andere Teil des Satzes stimmt aber auch: „Das Gebet ersetzt keine Tat.“ Mit meinem Gebet allein ist nicht alles vorbei, nicht alles getan. Gott wird nicht einfach alles richten, während ich beruhigt die Hände in den Schoß lege. Es kommt sehr wohl auch auf mein Handeln an. Ich kann nicht für die Bewahrung der Schöpfung beten und dann selbst nichts mehr dafür tun. Das Beten ersetzt keinen Einsatz meinerseits, aber es klärt ihn. Es gibt meinem Tun eine Richtung und die nötige Orientierung. Es schützt mich vor kopflosem und vor allem vor gottlosem Tun.

Beten ist wie einen „Besuch“ machen

Wenn ich bete, dann mache ich auch einen „Besuch“. Dazu muss ich Ihnen von meiner Oma Gretel erzählen. Die hatte eine Schwester – Tante Käthe. Nach ihrer Heirat trennten die beiden Schwestern gerade einmal achtzehn Kilometer voneinander. Aber die beiden haben sich nur selten gesehen – vor allem im Alter. Dafür haben sie viel miteinander telefoniert. Am Ende eines jeden Telefonats sagte eine der beiden Schwestern: „Da haben wir uns jetzt aber mal wieder schön besucht!“ Genauso verhält es sich für mich mit dem Beten. Wenn ich bete, vor allem wenn ich für jemanden bete, dann „besuche“ ich ihn. Dann treffe mich mit ihm – egal wie viele Kilometer gerade zwischen uns liegen. Ich treffe mich mit ihm „vor Gott“. Im Angesicht Gottes nehme ich Anteil an seinem Geschick. Ich lasse ihn in seiner mitunter schwierigen Situation nicht allein. Ob der andere das spürt?

F. Mendelssohn, Lieder ohne Worte op. 30: No. 2 in c-moll

Petrus im Gefängnis

Ich bin davon überzeugt: Ein solcher „Gebetsbesuch“ ist für den anderen spürbar. In der Apostelgeschichte des Lukas wird einmal erzählt, wie Petrus gefangen genommen und ins Gefängnis geworfen wird. Die christliche Gemeinde hört nicht auf, für ihn zu beten. Petrus spürt diese Gebete. Sie tun ihm gut. Wie sonst hätte es von ihm heißen können: „In jener Nacht, als ihn Herodes vorführen lassen wollte, schlief Petrus zwischen zwei Soldaten, mit zwei Ketten gefesselt, und die Wachen vor der Tür bewachten das Gefängnis“. (Apg 12,6) Wie sonst hätte Petrus mit schweren Ketten an sich, mit dicken Mauern um sich, mit bewaffneten Soldaten neben sich und einem Prozess auf Leben und Tod vor sich schlafen können?

Petrus spürt: Die Gemeinde ist im Gebet mit mir

Ich glaube: Petrus konnte schlafen, weil er gespürt hat: „Die Gemeinde ist im Gebet bei mir. Ich bin gut aufgehoben.“ Es ist schön, schlafen zu können, weil man sich mit seinen Sorgen und Nöten in den gefalteten Händen anderer Menschen geborgen weiß. Es ist schön, zu einem anderen sagen zu können: „Bete für mich! Wache für mich im Gebet! Denn ich brauche dringend Schlaf, um wieder zu Kräften zu kommen.“

„Besuche“, die wir heute machen können

Auch heute gibt es viele „Besuche“, die wir als Christinnen und Christen machen können: Besuche bei den namenlosen Frauen und Männern, die sich auf der Flucht vor Krieg und Gewalt befinden, die aufgrund ihres Glaubens oder ihrer Überzeugung in den Gefängnissen dieser Welt sitzen, die jeden Tag aufs Neue um das nackte Überleben kämpfen müssen. Aber auch Besuche bei Menschen ganz in der Nähe, die in dunklen Gedanken, in Ängsten und Sorgen wie gefangen sind. Das alles sind Besuche gegen das Vergessen-Sein, gegen das Allein-Sein eines Menschen. Und zugleich sind es Besuche der Hoffnung. Denn sie geschehen „vor Gott“. Sie geschehen im Angesicht dessen, der helfen kann. Bei dem kein Ding unmöglich ist.

F. Mendelssohn, Psalm 42, op. 42, VI.: Quintetto

Wenn ich bete, bleibe ich nicht allein

„Was mache ich eigentlich, wenn ich bete?“ Zwei weitere Antworten sind mir eingefallen. Erstens: Wenn ich bete, dann bleibe ich nicht allein. Ich bleibe nicht allein mit meinen Nöten und Traurigkeiten. Ich bleibe aber auch nicht allein mit meinem Glück und meiner Freude. Mit anderen Worten: Ich bleibe nicht allein mit dem, was in mir ist. Und das macht etwas. Es macht genau das, was ein altes Sprichwort lehrt: „Geteiltes Leid ist halbes Leid.“ Vor Gott spreche ich mich aus, auch wenn die Worte nur stotternd oder stammelnd über meine Lippen kommen.

Da ist einer, der mich hört

Dabei spüre ich: Das, was mir Sorgen und Angst macht, was mich traurig und verzagt sein lässt, verliert etwas von seiner Macht über mich. Es ist nicht mehr ganz so groß, nicht mehr ganz so unüberwindlich. Schon allein dadurch, dass es dafür Worte gibt. Schon allein dadurch, dass ich es in Worte fasse und damit fassbar mache. Und erst recht dadurch, dass einer da ist, der es hört. Denn das bedeutet: Ich bin nicht allein damit. Es ist einer da, der weiß, wie es mir gerade geht. Und: „Geteiltes Leid ist halbes Leid.“ Ebenso wie geteilte Freude doppelte Freude ist.

Beten verändert was

Antwort Nummer 2: Wenn ich bete, dann verändere ich etwas. Immer wieder einmal bekomme ich die Frage gestellt: „Bringt das Beten eigentlich etwas?“ Meine Antwort lautet: Ja, das Beten bringt etwas. Es bringt eine Veränderung. Manch einer antwortet mir dann: „Da habe ich aber ganz andere Erfahrungen gemacht. Ich habe gebetet und gebetet, aber es hat sich rein gar nichts verändert – zumindest nicht zum Guten.“

Gegenteilige Erfahrung: Beten verändert nichts

Bei dem einen sind die Schmerzen immer noch da. Bei der anderen ist der Streit in der Familie immer noch da. Krieg und Gewalt sind auch noch da – trotz aller Gebete. Nur die kranke Nachbarin ist nicht mehr da, sondern hat den Kampf gegen den Krebs verloren. Wo ist da die Veränderung, die Veränderung zum Guten?

F. Mendelssohn, Lieder ohne Worte op. 19b: No. 6 in g-moll

Beten bringt nicht zwangsläufig Veränderung zum Guten

Beten verändert nicht unbedingt die Situation zum Guten. Das kann sein. Und es gibt viele Menschen, die davon berichten können. Sonja hat gebetet und wurde wieder gesund. Harald hat gebetet und versöhnte sich mit seinen Eltern und mit seiner Vergangenheit. Andere haben gebetet und erlebten unglaubliche Wendungen und Entwicklungen in ihrem Leben. Das alles kann sein, aber es muss nicht sein.

Beten verändert auch Gott nicht

Beten verändert auch Gott nicht. Natürlich gibt es Geschichten in der Bibel wie die von Abraham: Durch sein Beten ließ sich Gott von fünfzig auf zehn Gerechte herunterhandeln, um derentwillen er die Stadt Sodom nicht zerstören wollte. Aber generell passt es nicht zu meinem Bild von Gott, dass ich ihn durch mein Beten verändern kann. Dass ich ihn durch mein Beten zum Guten bewegen kann. Denn das würde ja bedeuten: Gott würde ohne meine Beten eine Sache schlecht machen. Oder Gott hätte es vor meinem Beten schlecht gemeint – mit mir oder einem anderen oder mit der Welt.

Beten verändert mich

Mein Beten dient nicht in erster Linie dazu, die Situation oder Gott zu verändern. Sondern mein Beten zielt vielmehr auf mich selber ab. Im Gebet schwinge ich mich auf Gott und seinen Willen ein. Ich frage danach, was er mir mit diesem oder jenem sagen will. Manchmal führt das dazu, dass mein Denken zurechtgerückt wird und meine Überzeugungen ins Wanken geraten. Manchmal dazu, dass sich meine Sicht der Dinge verändert. Und schließlich erkenne ich im Gebet: Es hängt nicht alles an mir. Es steht und fällt nicht durch mich. Es steht weder durch mein Können und Vermögen noch fällt es, weil ich einen Fehler gemacht oder versagt habe.

Im Gebet Dinge und Menschen in Gottes Hände abgeben

Mir wird bewusst: Ich kann Menschen und Dinge abgeben, und zwar an den, der sie in seinen Händen hält und trägt. Das entlastet mich. Das verändert mich. Es verändert meinen Umgang mit den Menschen und den Dingen. Ich bin davon überzeugt: Das Beten macht nicht unbedingt etwas mit der Welt, der Situation oder mit Gott. Aber es macht auf jeden Fall etwas mit mir.

Ich lasse mich verändern

„Was machst du da?“, hat mich die Schülerin gefragt, als sie mich in der Pause beim Beten „ertappt“ hat. Ich denke, es ist ganz schön viel, was ich mache, wenn ich bete: Ich spreche zu Gott und immer mehr auch mit Gott. Ich mache etwas, das durch nichts anderes ersetzt werden kann. Ich mache einen „Besuch“. Ich bleibe nicht allein mit dem, was in mir ist. Und: Ich lasse mich verändern.

Beten, damit Seele Ruhe findet in Gott

Häufig bleibt es bei Kindern ja nicht bei der einen Frage: „Was machst du da?“ Häufig fragen sie weiter. Und nicht selten lautet ihre nächste Frage: „Und warum? Warum machst du das? Warum betest du?“ Auf diese Frage antworte ich – frei nach dem Kirchenvater Augustinus: „Weil meine Seele unruhig ist, bis sie Ruhe findet in Gott.“

F. Mendelssohn, Lieder ohne Worte op. 53: No. 4 in F-Dur

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