Es geht noch was
„Im Alter wird man halt vergesslich“ scherze ich, wenn ich mal wieder im Keller stehe und überlege: Was wolltest du jetzt hier holen?
An Demenz erkrankt sein, ohne es zu wissen
Aber ich weiß: für viele Menschen ist ihre Vergesslichkeit ein großes Problem geworden. Sie sind an Demenz erkrankt ohne es zu wissen. So wie bei einer Frau, der ich vor einiger Zeit begegnet bin.
Immer wieder neu mit dem Leben arrangieren
Sie ist alt. Sie hat den Krieg erlebt. Als Jugendliche musste sie lernen, sich in Gräben zu ducken, wenn Tiefflieger kamen. Der Vater war jung gestorben. Ab da musste sie sich um die jüngeren Geschwister kümmern, weil die Mutter arbeiten ging. Später hat sie ihre Rolle als Ehefrau, Mutter und Großmutter erfüllt so gut es ging. Schon mit Ende 50 war sie Witwe, aber sie gewöhnte sich daran, allein im Haus zu sein. Wenn die Gesundheit es zuließ, unternahm sie Reisen gemeinsam mit anderen. Sie arrangierte sich immer wieder neu mit dem Leben, wie es eben war. Geweint hatte sie schon lange nicht mehr und einer ihrer Standartsätze der letzten Jahre war: „Ich hab‘ keine Tränen mehr.“
"Ich weiß nicht mehr, wie die Mikrowelle aufgeht"
Aber nun steht sie in der Küche vor der Mikrowelle und Tränen rollen ihr über die Wangen. Panik zeichnet ihr altes Gesicht. Die Tochter kommt dazu und fragt, was passiert sei. Zögerlich und leise antwortet sie und klingt so fassungslos, wie sie sich fühlt: „Ich weiß nicht mehr, wie die Mikrowelle aufgeht“.
Sie hat die Tochter zum Mittagessen eingeladen. Das stand vorbereitet in der Tiefkühltruhe. Sie musste es nur auftauen. Eigentlich ist sie der Meinung, dass sie sich noch ganz gut alleine versorgen kann – „auch wenn im Oberstübchen nicht mehr alles so ganz richtig funktioniert“, wie sie selber manchmal sagt.
Aber jetzt steht sie da und ist völlig geknickt. Sie bekommt die Tür der Mikrowelle nicht mehr auf. Wie kann das sein? Was bedeutet das? Tränen steigen ihr in die Augen.
Der Alltag geht nicht mehr alleine
Zutiefst traurig muss sie erleben, dass der Alltag doch nicht mehr allein geht, dass sie angewiesen ist auf Menschen, die ihr helfen. Ein Wort steht schon lange im Raum, wird aber nie ausgesprochen: Demenz.
Alle versuchen die demenziellen Veränderungen zu übersehen
Die Tochter hat sich bereits mit dem Thema beschäftigt. Immer mal wieder war ihr aufgefallen, dass die Mutter Dinge vergessen oder verlegt hat, dass sie die gleichen Geschichten immer wieder erzählte. In den letzten Jahren sind die demenziellen Veränderungen dann immer weiter fortgeschritten. Doch alle versuchen, es zu übergehen, zu übersehen, nicht weiter darüber nachzudenken.
„Na ja, in deinem Alter….da kann man schon mal was vergessen“, heißt es dann milde. Oder: „Nach allem, was Sie schon mitgemacht haben, sind Sie doch noch ziemlich fit.“
Jetzt muss man über Demenz reden
Aber jetzt steht sie da, die alte Dame, wie ein Häufchen Elend. Mit Tränen in den Augen und völlig hilflos vor der Mikrowellentür, die nicht mehr aufgeht. Diesmal gibt es kein Entrinnen vor der Wahrheit. Das spürt auch die Tochter. Statt zu reden, nimmt sie die Mutter einfach in den Arm.
Danach richtet sie sich auf und die Tochter meint: „Na Mutti, und nun gucken wir mal nach, was es heute Mittag Schönes zu essen gibt.“ Sie drückt auf den Knopf, die Tür der Mikrowelle öffnet sich und sie teilen sich anschließend eine große Portion Erbsensuppe.
"Es wird wohl nicht mehr besser werden, aber wir machen einfach das Beste draus."
Dabei reden sie miteinander – zum ersten Mal auch über die Demenz. Erleichtert stellen sie beide fest, dass es auch mit Demenz einen ganz normalen Alltag geben kann. Sicher anders als vorher. Aber sie sind sicher: Wir finden einen Weg. Die Tochter meint: „Es wird wohl nicht mehr besser werden, aber wir machen einfach das Beste draus.“ Und ganz unvermittelt sagt die Mutter dann: „Dumm kann man sein, man muss sich nur zu helfen wissen.“ Dabei strahlt sie ihre Tochter an. Denn das war ein Satz, den sie von früher gut kennt und irgendwie passt er auch an diesem Tag.
Musik: Claudio Monteverdi, Laetatus sum (Gabrieli Consort & Players, Paul McCreesh)
Bei Demenz wird vieles unberechenbar und macht Angst
Demenz ist eine Krankheit mit unterschiedlichen Ursachen und sehr individuellen Auswirkungen. Vieles wird unberechenbar. Vieles macht Angst. Wie wird es weitergehen? Was wird noch alles auf uns zukommen? Das verunsichert und ist für die Betroffenen und ihnen nahestehende Menschen oft grausam und manchmal schwer zu ertragen.
Es gibt aber auch Momente der Lebensfreude
Aber als Pfarrerin habe ich immer wieder auch erlebt, dass es trotz allem Glücksmomente gibt. Unerwartete Augenblicke, in denen ein Strahlen durch die Gesichter geht, die Augen leuchten, Lebensfreude ist spürbar. Kostbare Momente – für die Erkrankten und auch für Menschen, die Demenzkranke begleiten.
Ich habe Schwester Martina vor Augen. Sie arbeitete schon seit vielen Jahren im Alten- und Pflegeheim. Ich war die neue Pfarrerin und sollte das erste Mal dort Gottesdienst halten. Sie sagte mir: „Singen Sie ruhig immer wieder die gleichen vertrauten Lieder mit den Menschen hier.“ Aus Erfahrung wusste sie: Das Vertraute und Bekannte gibt Sicherheit und Ruhe.
Gottesdienst im Speisesaal
Im Speisesaal hatten alle Platz, die am Gottesdienst teilnehmen wollten. Schwester Martina verwandelte einen Tisch zum Altar. Sie brachte Kerzen und Blumen mit und Liedblätter mit Großdruck. Mancher konnte nicht mehr lesen, tat sich schwer mit der Konzentration oder dem Wach-bleiben. Aber bei den alten Liedern stimmten auch sie mit ein, wenn es zum Beispiel hieß:
Großer Gott wir loben dich, Herr wir preisen deine Stärke, vor dir neigt die Erde sich und bewundert deine Werke, wie du warst vor aller Zeit, so bleibst du in Ewigkeit.
Es gibt etwas, das Bestand hat: z. B. das Singen von bekannten Liedern
Menschen, die sonst gar nicht mehr viel sprachen, oft nur scheinbar teilnahmslos auf ihrem Platz saßen, sangen plötzlich lautstark mit. Als junge Pfarrerin war das für mich fast wie ein Wunder. Ich erlebte schwer demenzkranke Menschen, die plötzlich wieder aus sich herausgingen, die voller Inbrunst sangen - oft mehrere Strophen auswendig kannten. Und es tat gut, bei allem, was die Krankheit verändert, davon zu singen und zu hören und zu spüren: Es gibt etwas, das Bestand hat, das bleibt und Halt gibt in Ewigkeit.
Gott, der die Menschen und die ganze Welt geschaffen hat, bleibt seinen Werken liebevoll zugewandt, wie es im Lied heißt. Dieser Glaube hat Menschen zu allen Zeiten Hoffnung gegeben, auch und gerade dann, wenn nichts mehr so war, wie es sein sollte. Die Bibel erzählt davon. Von den Erfahrungen des Volkes Israel – und von der Hoffnung in den dunkelsten Stunden.
Musik: Reinhard Börner, Großer Gott wir loben dich
Hoffnung in den dunkelsten Stunden
Es ist mehr als 2500 Jahre her: Der König von Babylon überfällt Jerusalem, erobert die Stadt, nimmt Menschen gefangen. Große Teile der Bevölkerung werden verschleppt nach Babylon. Dort sind sie fremd, heimatlos. Vertrieben aus der gewohnten Umgebung. Viele sind vor Kummer ganz schwach geworden und hoffnungslos. Es wird nie mehr so werden wie früher, - das müssen sie mit der Zeit erkennen.
Jesaja tröstet das Volk Israel
Doch dann tritt plötzlich einer auf: Jesaja. Ein Prophet, ein Mann Gottes. Der sagt: „Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer Gott.“ (Jesaja 40,1) Und dann tröstet Jesaja die Menschen. Mit einer Botschaft von Gott. Er sagt: „Gott sieht euren Kummer, eure Angst. Aber verzweifelt nicht daran. Es gibt Hoffnung. Gott schickt einen Menschen, der euch helfen wird. Gottes Geistkraft wirkt durch ihn. ‚Das geknickte Schilfrohr zerbricht er nicht, den glimmenden Docht löscht er nicht aus.“ (Jesaja 42,3)
Geknickte Schilfrohre und glimmende Dochte kannten die Menschen damals
Ein Trostwort für alle, die vor Kummer geknickt sind, die nur noch mit letzter Kraft durch den Tag kommen. Ja, diese Bilder verstehen die Menschen damals in Babylon gut. Geknickte Schilfrohre stehen am Flussufer des Euphrat. Man kann sie nicht mehr aufrichten, aber die Wurzeln versorgen die Pflanze weiter mit Nährstoffen. So bleibt sie lebendig, auch wenn sie nicht mehr aufrecht steht.
Den glimmenden Docht einer Öllampe kennen die Menschen damals aus ihren Häusern, wenn das Öl zu Neige geht und der Docht nur noch spärlich getränkt ist. Dann brennt nur noch ein winziges Flämmchen, aber auch davon geht Licht und Wärme aus. Und das Feuer kann noch überspringen auf einen anderen Docht.
Diese Worte und Bilder geben den Menschen Hoffnung
„Das geknickte Schilfrohr zerbricht er nicht, den glimmenden Docht löscht er nicht aus.“ Diese Bilder, diese Worte des Propheten geben den Menschen Hoffnung und neue Kraft. Sie hören daraus die Botschaft: Gott hat uns nicht vergessen. Wir sind immer noch was wert in Gottes Augen. Das dürfen wir glauben.
Musik: Felix Mendelssohn Bartholdy, Wer nur den lieben Gott läßt walten (Berliner Vokalensemble unter Bernd Stegmann, Stefan Gottelmann, Orgel)
Gott schickt einen Menschen zu den Geknickten und denen, die am Ende ihrer Kraft sind. Sie sollen wissen: Gott hat uns nicht vergessen.
Schwester Martina - ein Mensch gesandt von Gott
Manchmal denke ich: Schwester Martina aus dem Alten- und Pflegeheim ist so ein Mensch. Gesandt von Gott, voller Liebe für diejenigen, die am Ende ihres Lebens schwach sind, hilfsbedürftig, liebesbedürftig und manchmal schwer zu ertragen. Mit ihr erlebte ich eine Geistkraft, die uns gemeinsam neu belebte im Gottesdienst.
Auf ihre Nachfrage hin erzählten alte Menschen dort plötzlich kleine Geschichten aus ihrem Leben, und manchmal erzählten sie diese Geschichte auch zwei- oder dreimal. Wir nahmen uns die Zeit und hörten immer wieder neu aufmerksam zu. Denn wir spürten, dass in dieser Geschichte ganz wichtige Dinge vorkamen: Herzensthemen, Lebensthemen, die immer wieder heraussprudelten aus einem Menschen – trotz der Demenzerkrankung. Schwester Martina blieb dabei immer geduldig und offen zugewandt. Das musste ich von ihr erst mal lernen.
Den Gottesdienst feiern mit an Demenz erkrankten Menschen
Mit der Zeit verlor ich die Angst und Unsicherheit im Umgang mit Demenz. Es machte mir Freude, gemeinsam mit Schwester Martina und den Menschen im Speisesaal am Sonntag Gott und das Leben zu feiern. Alle konnten einfach so da sein, wie sie waren: Laut oder andächtig, rastlos oder müde. Jeder und jede wertvoll und geliebt in den Augen Gottes. So glaubte es Schwester Martina. Und dieser Glaube gab ihr Kraft für die schwere Arbeit, die sie leistete Tag für Tag im Schichtdienst.
Sonntags: immer in der Frühschicht. Dann konnte sie auch den Gottesdienst vorbereiten. Einmal sagte sie mir: „Diese Arbeit ist für mich besonders wichtig. Da stärken wir uns gegenseitig mit Liedern und Worten. Wir beten miteinander und füreinander und vertrauen darauf, dass Gott gerade bei den Schwächsten ist.“
Ja, denke ich. Bei den Schwächsten. Die geknickt sind, denen die Kraft ausgeht, die sich manchmal am Ende fühlen und hilflos. Denen gilt Gottes Hilfe.
Manchmal braucht man Abstand
„Und manchmal brauche ich auch einfach Abstand, Feierabend und die dienstfreien Tage,“ fügt Schwester Martina hinzu. „Da gehe ich dann mit meinem Mann gerne wandern, oder wir fahren mal raus in den Odenwald, um ein neues Lokal auszuprobieren. Und manchmal sind wir auch im Schwimmbad, so wie früher, als wir noch jung und verliebt waren“, sagt sie und lächelt.
Das Leben so feiern, wie es gerade ist
Vielleicht hat sie das mit den demenzkranken Menschen gelernt: achtsam sein für die kleinen Glücksmomente, die das Leben schenkt. Ich jedenfalls habe mit ihr und den Menschen im Alten- und Pflegeheim gelernt, das Leben zu feiern, so wie es gerade ist: manchmal mühsam und ungerecht, manchmal überraschend leicht und anders.
Im Gottesdienst hatte all das Raum. Dort konnten wir miteinander vor Gott klagen, weinen und lachen, reden, schweigen, beten und singen. Und Trost finden. Auch in der Hoffnung, die schon das Volk Israel vor mehr als 2500 Jahren getröstet hat: „Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen und den glimmenden Docht löscht er nicht aus.“
Immer wieder habe ich erlebt: es gibt Menschen, die dieses Bild leben. Die auch da noch achtsam hinschauen, wo nicht mehr viel zu erwarten ist. Menschen, die die Hoffnung nicht aufgeben und die Lebensfreude wach halten bis zum Schluss. So wie Schwester Martina.
Musik:Felix Mendelssohn Bartholdy, Du meine Seele singe (Berliner Vokalensemble unter Bernd Stegmann, Stefan Gottelmann, Orgel)
Es gibt immer mehr Aufklärung, Hilfe und Unterstützung für demenzkranke Menschen und deren Angehörige
Achtsam hinschauen, mitaushalten und zupacken, wo es nötig ist. Das gelingt nicht nur Schwester Martina. Inzwischen gibt es immer mehr Aufklärung, Hilfe und Unterstützung für demenzkranke Menschen. Und auch für die, die demenzkranke Menschen begleiten und unterstützen. Es gibt Beratungsstellen, Gesprächsgruppen und Einrichtungen, die für Entlastung sorgen, gerade auch für pflegende Angehörige. Helfen und sich helfen lassen gehören eng zusammen.
Das spürte auch die Tochter, als sie ihre Mutter vor der Mikrowelle fand. Sie wusste längst: Alleine schaffen wir das nicht. Deshalb hatte sie schon vor längerer Zeit für ihre Mutter einen Platz beantragt in einer Demenz- Wohngemeinschaft der Diakonie. Bei der Anmeldung hieß es: „Melden Sie sich einfach wieder, wenn ihre Mutter hier einziehen möchte und Sie den dringenden Bedarf erkennen.“
Ein Platz in einer Demenz-Wohngemeinschaft der Diakonie
Nun ist es soweit. Ein Zimmer ist frei, kann besichtigt werden und dann folgt der Umzug. Das ist eine Umstellung: Vom großen Haus in nur ein Zimmer mit Bad. Aber der schöne Ausblick ist wie zu Hause. „Ich habe einen herrlichen Garten und brauche mich nicht mehr drum zu kümmern,“ sagt die alte Dame nun öfter. „Und das Personal ist immer geduldig und freundlich. Das ist wirklich bewundernswert.“
Inzwischen hat sie sich an die neue Umgebung gewöhnt und fühlt sich sicher und gut versorgt. „Hier kann man sich was wünschen und bekommt fast alle Wünsche erfüllt,“ erzählt sie eines Tages ihrer Tochter, die regelmäßig zu Besuch kommt. Sicher: es gibt auch die anderen Tage. Da hat sie keine Lust mehr aufzustehen, fühlt sich müde und gar nicht gut.
Eine große Haustür, die sich von alleine öffnet
Aber immer wieder ermutigt die Tochter ihre Mutter, mit dem Rollator einen kleinen Spaziergang nach draußen zu machen. Dann freut sich die alte Dame über die große Eingangstür des Hauses. Die geht einfach automatisch auf, wenn sie sich von Weitem nähern.
„Wie wunderbar, dass die Tür einfach aufgeht,“ sagt dann immer wieder eine von beiden. An die Geschichte mit der Mikrowellentür erinnert sich nur noch die Tochter. Aber eine Haustür, die einfach aufgeht, ist nun für beide eine Erleichterung.
Immer neu ausschauen nach Dingen, die trösten und Hoffnung schenken
Im Alter mit Demenz die richtige Umgebung und Lebensform zu finden, ist nicht immer einfach. Aber sich frühzeitig darüber Gedanken zu machen und in der Familie oder mit Freundinnen oder Freunden darüber zu sprechen, ist sinnvoll. Vieles ist bei dieser Erkrankung unberechenbar. Vieles macht Angst und verunsichert. Aber gemeinsam und mit Unterstützung von Fachleuten lassen sich oft gute Lösungen finden.
Immer bedeutet das, von vielem Abschied zu nehmen, was vertraut und wichtig war. Das ist schmerzhaft und macht traurig. Umso wichtiger ist es dann, neu nach dem Ausschau zu halten, was tröstet, was Hoffnung schenkt und Lebensfreude - trotz allem.
Musik: Johann Sebastian Bach, Jesu bleibet meine Freude (Bach Collegium Japan unter Masaaki Suzuki mit Robin Blaze, Countertenor und Peter Kooij, Bass)