Dialog mit Gott - Plädoyer für das Beten als Kulturtechnik
Wer nach einer typischen Ausdrucksform für den Glauben sucht, kommt schnell auf Gebete. Das Beten steht wie kein anderes Attribut für die gelebte Frömmigkeit, und das gilt tatsächlich in allen Religionen. Nicht nur Christen beten, auch Juden und Muslime praktizieren ihre Gebete. Entsprechende Handlungen gibt es im Buddhismus, Hinduismus und den anderen Religionen. Wer sich also mit Glaubensfragen beschäftigt, sollte sich auf jeden Fall mit der Praxis des Betens befassen.
Jugendlichen einen eigen Zugang zum Beten ermöglichen
Genau das habe ich als Gemeindepfarrer im Konfirmandenunterricht versucht. Ich wollte den Jugendlichen einen eigenen Zugang zum Beten ermöglichen. Kein Auswendiglernen alter Texte, sondern die Chance auf eine persönliche Erfahrung. Das ist nicht einfach. Für Erwachsene nicht, und für Jugendliche in der Pubertät erst recht nicht.
Konfirmandenfreizeit in einem Kloster
Für die Konfirmandenfreizeit hatten wir uns dazu in einem Kloster einquartiert. Eine Benediktiner-Abteil, mit einem eigenen Haus für Jugendliche. Dort hatten wir die Gelegenheit, in die alte Klosterkirche zu gehen. Am späten Abend, als es eigentlich schon Schlafenszeit war, gingen wir in diese Kirche – im Dunkeln. Nur auf dem Altar leuchteten ein paar Kerzen. Die Jugendlichen verteilten sich so auf die Bänke, dass zwischen ihnen jeweils viel Platz blieb. Jeder und jede sollte vollkommen unbeobachtet bleiben, so, als wären sie ganz allein in der dunklen Kirche.
Das ist schon die erste Voraussetzung, um sich dem Beten zu widmen: Einerseits in der spürbaren Gemeinschaft geborgen, andererseits aber auch alleine und unbemerkt, ganz bei sich. Vielleicht meinte Jesus das, als er empfahl: „Wenn du betest, so geh in deine Kammer, und wenn du deine Tür geschlossen hast, bete zu deinem Vater im Verborgenen.“ (Matthäus 6,18)
Im dunklen Kirchenraum fällt es leichter, sich auf seine Gedanken zu konzentrieren
Im dunklen Raum fällt es den Jugendlichen leichter, ruhig zu werden, bei sich zu bleiben. Im Unterrichtsraum wären die meisten wohl albern geworden und hätten gekichert, aber hier in diesem alten Klostergemäuer ging es. Wir saßen still in den Bänken. Nichts passierte, eine halbe Stunde lang. Und dann kommen ganz allmählich die Gedanken. Alles das, was sonst aus Zeitmangel verdrängt wird, was im lauten Getriebe untergeht, kann in der dunklen Kirchenbank wahrgenommen werden. Nur den Blick auf die Kerzen auf dem Altar gerichtet, hatten die Konfirmanden die Chance, sich mit den Fragen zu beschäftigen, die sie am meisten drängen.
Bei dem Beten geht es vorrangig nicht um Worte. Die Gedanken sind viel wichtiger. Und solche Gedanken brauchen einen Schutzraum: Ruhe und ein gewisses Quantum an Abgeschiedenheit.
Musik: Arvo Pärt, Vater Unser (arr. für Cello und Klavier von Camille Thomas), Camille Thomas, Cello Julien Brocal, Piano
Zehn Prozent der Menschen in Deutschland beten täglich
Was ist gemeint, wenn vom Beten die Rede ist? Auf der Suche nach einer Antwort könnten wir zunächst Zahlen sprechen lassen: Zahlen drücken zwar nicht aus, wie und was gebetet wird, aber sie zeigen, dass gebetet wird und wie oft. Rund 10 Prozent der Menschen in Deutschland sagen, dass sie täglich beten und ungefähr ein Drittel sogar mehrmals im Monat, so die Statistik. Unter den Kirchenmitgliedern sind es noch mehr. Dabei ist es egal, ob sie evangelisch sind oder katholisch. In der Häufigkeit des Betens unterscheiden sich die Konfessionen kaum.
10 Prozent, das klingt wenig, ist aber sehr viel. Immerhin falten diese Menschen ihre Hände täglich zur Andacht. Ab und zu beten, das kommt für noch mehr Menschen in Frage: Laut Umfrage für die Hälfte aller Deutschen. Das sind das rund vierzig Millionen Frauen, Männer und Kinder.
Auch Menschen , die die Kirchen verlassen haben, halten an der Tradition "Beten" fest
Ich finde diese Zahl erstaunlich hoch. Das sind ungefähr genauso viele Menschen wie die Kirchen Mitglieder haben. Aber es sind ja nicht nur Christinnen und Christen, auch die Angehörigen anderer Religionen wie etwa Juden und Muslime sprechen zu ihrem Gott und beten. Und auch jene Menschen, die der Kirche aus unterschiedlichen Gründen einmal den Rücken zugewandt haben, halten oft an dieser Tradition fest.
Das "Vaterunser" gegen Flugangst
Man muss kein kirchentreuer Gottesdienstgänger sein, um in dramatischen Situationen ein Stoßgebet zu formulieren. Eine Frau mit starker Flugangst, erzählte mir von ihrer bewährten Strategie: Genau in dem Moment, in dem die Düsen beim Starten aufheulen, spricht sie die Worte des Vaterunsers. Ganz langsam, Zeile für Zeile, und sehr bewusst. Wenn das Timing stimmt, betet sie die letzten Worte, „denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit“ exakt in dem Moment, in dem das Flugzeug von der Landebahn abhebt. Das Beten schiebt in diesem Moment die Angst beiseite. Und das nicht nur, weil das Sprechen der Gebetszeilen den Atem beruhigt, auch die Konzentration auf Gott und seine Schöpferkraft schafft Vertrauen. So wie es die Konfirmanden in der Klosterkirche erfahren hatten.
Das stille Gebet ist wie ein Medikament gegen Stress
Das ist eine Weise, bei der das Gebet in einer kritischen Situation hilft. Eine andere Art des Betens ist es, sich in besonderer Atmosphäre innerlich zu sammeln: Sich schweigend hinsetzen, die Ruhe spüren und der inneren Stimme lauschen. Das stille Gebet ist wie ein Medikament gegen Stress, es kann sogar den Blutdruck senken.[i]
Ein Dialog mit Gott
Wieder andere suchen im Gebet den Dialog mit Gott. Sie formulieren Bitten oder stellen Fragen, um eine Entscheidung zu finden: Soll ich das Angebot annehmen? Kann ich diesem Menschen vertrauen? Darf ich hier einfach nein Sagen? So ein Gebet kann zu einer aufgeregten Diskussion werden.
Beten als Kulturtechnik begreifen
Schon auf Grund dieser Vielfalt und der Verbreitung liegt es nahe, das Beten als eine Kulturtechnik zu begreifen. Kulturtechniken – damit werden Fähigkeiten bezeichnet wie etwa Schreiben, Lesen und Rechnen, also Techniken, die bei der Lebensgestaltung helfen.
Musik: Jean-Philippe Rameau, Tendre Amour aus: Les Indes galantes (Entrée III Scène 7), Les Arts Florissants & William Christie
Genauso wie Schreiben, Rechnen und Lesen hilft auch das Beten bei der Lebensbewältigung. Es kann beruhigen, Vertrauen schaffen und dabei helfen, schwere Entscheidungen zu treffen, wenn ich darauf höre, was Gott wohl dazu sagen würde. Gleichzeitig prägt die Art und Weise, wie Menschen beten, auch die jeweilige Kultur. Also Kulturtechnik im doppelten Sinn.
Unterschiedliche Gebetsformen bei unterschiedlichen Religionen
Ein buddhistischer Mönch etwa nutzt beim Beten ausgefeilte Meditationstechniken und verharrt stundenlang im Schweigen. Ein Anhänger der Sufis tanzt sein Gebet. Er dreht sich im Kreis und tanzt sich in Trance. Für ihn ist die Bewegung wichtiger als Worte. In den jüdischen Gebeten spielt Kleidung eine entscheidende Rolle: Ein Gebetsschal mit langen Fäden knüpft an die Traditionen an, dazu werden Gebetsriemen an Arm und Stirn angelegt. Die evangelischen Christen neigen dazu, ausführliche Texte zu formulieren.
Das Beten muss vermittelt und gelernt werden
Die Formen des Gebetes unterscheiden sich also deutlich. Sie prägen die jeweilige Kultur und tragen zur Identität der Gemeinschaft bei. Doch wie jede andere Kulturtechnik muss auch das Beten vermittelt und gelernt werden, damit es im Bedarfsfall zur Hand ist.
Psalmen als Anleitung zum Beten
Im jüdisch-christlichen Glauben bieten die Psalmen dafür einen Leitfaden. Seit rund zweieinhalb Tausend Jahren nutzen Menschen diese Textsammlung aus dem Alten Testament als Anleitung zum Beten. Ein Großteil dieser Texte besteht aus Klagen: Menschen in der Not rufen zu Gott, wenn sie sonst niemanden mehr haben. Sie richten Fragen an Gott und Bitten um Hilfe, machen Vorwürfe und äußern Wünsche. Am Ende aber besänftigt die Hoffnung, überhaupt ein Gegenüber zu haben in der Verzweiflung. So etwa in dem 13. Psalm:
„Wie lange willst du mich noch vergessen?
Wie lange verbirgst du dein Angesicht vor mir und übersiehst mich?
Wie lange soll sich meine Seele sorgen,
wie lange muss ich Kummer in meinem Herzen tragen, Tag für Tag?
Wie lange noch soll mein Feind sich über mich erheben?
Schau her und erhöre mich, o mein Gott!
Erleuchte meine Augen, dass ich nicht in Resignation versinke“
Musik: Arvo Pärt, Psalom für Streichorchester, Teil 1, hr-Sinfonieorchester unter Constantinos Carydis
„Wie lange noch?“
„Wie lange noch?“ fragt der Psalmbeter immerzu. Eine Antwort bleibt aus. Wenn das Gebet als Gespräch mit Gott verstanden wird, dann ist es ein recht eigenartiger Dialog, weil scheinbar doch nur einer spricht. Mit Gott zu sprechen ist so, als diskutiere meine Seele mit einem Gegenüber, das jeden Gedanken bereits kennt, noch bevor ich ihn ausgesprochen habe.
Beten heißt auch, für sich selbst Klarheit bekommen
Aber warum soll ich dann überhaupt Worte an Gott richten, wenn er doch schon alles weiß? Gott braucht keine Worte, aber ich benötige sie. Ich breite meine Sorgen nicht aus, um Gott zu informieren, sondern um für mich Klarheit zu bekommen. Seine Stimme in diesem Dialog ist die Stimme meines Gewissens und die meines Herzens.
Indem ich bete, beginne ich mich selbst zu ändern
In der christlich-jüdischen Tradition gibt es deshalb die Vorstellung, dass Gott im Gebet zwar das Gegenüber ist aber nicht der Adressat. Das ist vielmehr der betende Mensch selbst! Wenn ich beim Beten meine Gedanken bündele und die Verzweiflung ausdrücke, richte ich meine Worte zwar an Gott als Gegenüber. Aber alles, was ich denke und sage, kehrt doch wieder zu mir zurück. Durch mein Gebet ändere ich nicht Gott. Ich kann weder seine Haltung noch ihn selbst beeinflussen. Aber indem ich bete, beginne ich mich selbst zu ändern.
Die Worte kehren zum Betenden zurück
So richtet der Psalmbeter seine Worte formell an Gott: Wie lange willst du mich vergessen und mein Leid übersehen? Aber indem er diese Klage ausspricht, befindet er sich schon im Austausch, er wird angesehen, erhört, fühlt sich nicht mehr so verlassen. Und auch ich habe dann die Überzeugung: Ja, so ganz verlassen bin ich ja gar nicht, ich kann mich in der Not immer noch an Gott wenden. Im kontemplativen Beten kehren die Worte zu mir zurück, denn die Stimme meines Gewissens kommt von Gott.
Gebete werden häufig nicht formuliert, um die Welt zu verändern, sondern um sie zu ertragen
In dieser Hinsicht kann ich das Gebet mit einem Gespräch vergleichen, das ich mit meinem besten Freund führe. Er soll mir zuhören, wenn es mir schlecht geht, meine Gefühle verstehen, mein Leid sehen. Mit ihm rede ich nicht, damit er mein Problem löst, sondern weil ich es mit ihm teilen möchte. Ich brauche ihn als Gegenüber, der Verständnis zeigt und mich durch dick und dünn begleitet. Es ist ein verbreitetes Missverständnis zu glauben, Klagen würden nur formuliert, um die Probleme zu beseitigen. So ist es auch mit Gebeten. Sie werden häufig formuliert, nicht um die Welt zu verändern, sondern um sie zu ertragen.
Musik: Claude Debussy, Nuages, Suite aus »Nocturnes« und »Images pour orchestre«, hr-Sinfonieorchester unter Pablo Heras-Casado
Gebete, wie Stoßseufzer, können von Angst befreien
Gebete, die wie ein Stoßseufzer wirken, die frei machen und Angst vertreiben, passen nicht nur zu den großen existenziellen Krisen. Auch wenn es nicht um Leben und Tod geht, bieten sie einiges und helfen in schwierigen Situationen.
Das innere Sprechen von kurzen Gebetstexten, die mit richtiger Atmung wiederholt werden, bietet auch denen Hilfe, die sich etwa davor fürchten, zur Untersuchung in die schreckliche Röhre eines Computertomographen geschoben zu werden, oder bei einer Wanderung im Gebirge auf dem Grad plötzlich Höhenangst bekommen.
Möglicherweise erscheint manchen Menschen dieser Umgang mit dem Gebet zu instrumentalisiert. In diesen Fällen steht das Gebet ja nicht im direkten Zusammenhang mit dem Glauben. Es hat auch nicht mehr viel mit den Gebeten im Gottesdienst zu tun. Keine Frage: Dort haben Gebete wie etwa die Fürbitten ihre besondere Bedeutung. Da ist die Wortwahl auch wichtig, gerade weil sie von einer Gemeinschaft gesprochen werden. Und weil diese Worte Zusammenhang stiften und Solidarität schaffen.
Die persönliche Betroffenheit beim Beten, kann den Zugang zu anderen Gebetsformen öffnen
Anders ist es aber, wenn wir das Beten als Kulturtechnik betrachten, als Fähigkeit, mit den Herausforderungen meines Lebens umzugehen. Da geht es um die persönliche Sicht. Erst wenn ich gespürt habe, wie das Beten sich auf die eigene Befindlichkeit auswirkt, merke ich, was ein Gespräch mit Gott vermag. Die persönliche Betroffenheit öffnet dann auch den Zugang auch zu anderen Formen des Betens, etwa gemeinschaftlich im Gottesdienst.
Der intime Charakter des Betens
Wichtig ist: Am Anfang steht immer das unmittelbare Erlebnis. Häufig sind das keine schönen Situationen, eher eine Bedrängnis, über die ich nicht so gerne spreche. Heinrich Bedford-Strohm, der ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche, hat deshalb einmal von dem intimen Charakter des Betens gesprochen:
„Beten gehört wahrscheinlich zu den intimsten Dingen, die es im Leben eines Menschen gibt. Es gibt so etwas wie eine religiöse Scham. Sie ist manchmal noch größer als die Scham bei der Sexualität. Über Sexualität reden wir noch eher, zumal sie in allen möglichen Zeitungen und Zeitschriften thematisiert wird. Aber über das Beten? Wer erzählt eigentlich den Menschen, die ihm nahe sind, dass er oder sie persönlich betet?“[ii]
Es ist schwer über eigene Gebete zu sprechen
Die Zwiesprache mit Gott, die keine Worte braucht, ist zutiefst menschlich. Gerade weil sie so intim sind, ist es nicht einfach, über eigene Gebete zu sprechen. Und doch ist es wichtig, Erfahrungen mit dem Gebet weiterzugeben. Beten als Kulturtechnik, das ist: Ruhiges Nachsinnen, ein inneres Wühlen in Gefühlen, die Fähigkeit, sich schwebenden Gedanken zu öffnen, und dabei über sich hinauszutreten.
Ein Stück weißes Papier als Symbol für die unsortierten Gedanken
Solche Dialoge mit einem transzendenten Gott sind nicht nur als Kulturtechnik schützenswert; sie brauchen auch einen geschützten Raum, um vorkommen zu können. So wie die dunkle Klosterkirche den Konfirmanden einen Raum für diese Erfahrung bot. Am Ende der stillen Zeit in der Kirchenbank hatte dann jeder ein Stück weißes Papier auf den Altar gelegt. Ein Symbol für die unsortierten Gedanken, die nur schwer oder gar nicht in Worte zu fassen sind. Gesprochen haben wir anschließend dann doch noch, und zwar über die Erfahrung der Stille, in der sich die Gedanken des Gebets wie von selbst entfalten. Über die Inhalte aber haben wir nicht gesprochen, die waren einfach zu persönlich.
Musik: Camille Saint-Saens, L'enlevement, Bart Schneemann, Oboe, Paolo Giacometti, Piano
[i]www.focus.de/gesundheit/ratgeber/herz/news/beten.senkt-blutdruck-studie_id_2448227 außerdem: www.medical-tribune.de
[ii]https://www.ekd.de/beten-14948.htm