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Und vergib uns unsere Schuld
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Und vergib uns unsere Schuld

Dr. Matthias Viertel
Ein Beitrag von Dr. Matthias Viertel, Evangelischer Pfarrer, Kassel
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Meine Großmutter hatte ein Gebetbuch auf dem Nachtisch liegen. In dem blätterte sie vor dem Einschlafen. Das Buch war in Leder eingebunden und man sah ihm an, dass es viel genutzt wurde. Es faszinierte mich damals, schon wegen der geheimnisvollen Bilder darin. Ich war neugierig und fragte meine Großmutter danach.

Das Gebetsbuch meiner Großmutter mit Texten zum Thema Schuld

Sie sagte mir, es sind kurze Texte und Gebete, in denen es um die Vergebung von Schuld und Sünde geht. Das machte es für mich als Kind noch spannender, weil ich nicht wusste, was damit gemeint war.

Für viele in der Generation meiner Großeltern war die Sündhaftigkeit des Menschen etwas, was sie nicht in Frage stellten. Es war ihnen für ihr Leben wichtig als eine Art Richtschnur für gutes oder auch schlechtes Tun und Denken. Wenn meine Großmutter abends im Gebetbuch las, half ihr das, innere Ruhe zu finden.

Frage nach Schuld und Sünde früher oft mit Angst verbunden

Allerdings war die Frage nach Schuld und Sünde in der Vergangenheit oft auch mit Angst verbunden. Vom Reformator Martin Luther wissen wir, wie sehr ihn die Angst vor einer Strafe für sündhaftes Verhalten quälte. Und gleichzeitig war die Frage nach Schuld und Sünde einer der Anlässe, die Kirche zu erneuern. Denn er wollte nicht akzeptieren, wenn die Kirche Menschen gegen Bargeld von aller Schuld freisprach. Genau das meinte ja der Ablasshandel: Eine finanzielle Aktion der Entschuldigung. Für Luther war es unmöglich, so reinen Tisch zwischen Mensch und Gott zu machen.

Begriffe Schuld und Sünde -heute oft aus Alltagssprache verschwunden

Heute sind Schuld und Sünde weitgehend aus der Alltagssprache verschwunden. Wo sie noch auftauchen, werden sie häufig verharmlost, wenn zum Beispiel jemand Kuchen essen „sündigen“ nennt. Nur in einem Punkt taucht die Sünde wieder auf, und zwar in der Rede vom „Umweltsünder.“ Gemeint sind damit Menschen, die durch ihr Verhalten die Belastung der Luft noch vergrößern. Die ihre eigene Bequemlichkeit wichtiger nehmen als den Umweltschutz. Da scheinen die alten Begriffe wieder treffend, um das Problem zu beschreiben.

Wo heute von Sündern und Schuld gesprochen wird

Dabei geht es nicht nur um Fehler, die man selbst gemacht hat und später bereut. Oft ist das Schuldbewusstsein in komplexe Strukturen eingebettet. Also an Strukturen und Umstände, an denen ich selbst kaum etwas ändern kann. Der Blick auf diese spezielle Art der „Sünde“ lohnt aber auch, weil er eine Menge über den Umgang mit Schuld verrät. Wenn von Umweltsündern die Rede ist, sind es meistens die anderen, deren Verhalten öffentlich angeklagt wird: Demonstranten protestieren und stellen Forderungen für andere auf. Um Gebetbücher geht es da nicht mehr. Wer protestiert, versteht das als politische Forderung aber doch nicht als Anfrage an den persönlichen Glauben.

Umgang mit Schuld- eine Frage der Religionen

Und doch: Es bleibt eine Frage des Glaubens, wie Menschen mit Schuld umgehen. Es ist eine der Säulen der Religionen. Auch der christliche Glaube hängt eng mit der Frage zusammen, wie ich in meinem Leben Schuld verstehe. Wo ich meine, mein Leben zu verfehlen, gegenüber Menschen. Auch gegenüber Gott.

Musik: Die Fantastischen Vier: Gebt uns ruhig die Schuld

Versäumnisse führen zu Schuldgefühlen

Als Pfarrer begegne ich Menschen, die mit ganz unterschiedlichen Formen von Schuld kämpfen. So sprach ich mit einem Vater, der sich Vorwürfe machte, weil er seinem Sohn die Unterstützung verweigert hat. Er war mit dessen Berufswahl nicht einverstanden und hat ihn deshalb abgewiesen. Nun bereute er sein Verhalten. Solche Versäumnisse an anderen Menschen führen häufig zu Schuldgefühlen. Konflikte mit den Kindern, mit dem Partner oder Freunden lassen sich zum Glück lösen, auch wenn das anstrengend ist und es keine Garantie gibt. Man braucht dafür auf jeden Fall den Mut, eigene Fehler einzugestehen, und die Offenheit, mit dem anderen Menschen darüber zu sprechen.

Schuldzuweisungen als Druckmittel

Nicht ganz so eindeutig ist es mit Schuldzuweisungen, die als Druckmittel benutzt werden. Da gibt ein Mann immer wieder seiner Frau die Schuld für das eigene Versagen, er drangsaliert sie und schiebt seinen ganzen Ärger von der Arbeit auf sie. Oder Kinder machen ihre Eltern verantwortlich für alles, womit sie in ihren Leben nicht zurechtkommen. Solche Krisen führen ebenfalls zu Schuldgefühlen, auch wenn diese häufig nur eingeredet sind.

Über Schuldgefühle und -zuweisungen ins Gespräch kommen

Von diesem Missbrauch spreche ich hier nicht, aber es ist verwerflich, anderen Menschen Schuldgefühle aufzubürden, die sie nicht verdient haben, nur um sich selbst zu entlasten. Sich über solche Schuldgefühle und Schuldzuweisungen auszutauschen ist wichtig, manchmal braucht man dafür auch Hilfe, um aus dem Strudel herauszukommen.

Mir hier geht es hier noch um etwas ganz Anderes. Ich spreche über eine weitere Form der Schuld, die gerade jetzt an Bedeutung gewonnen hat.

Formen von Schuld durch den Umgang mit der Schöpfung

Ich meine das Unbehagen angesichts der Krisen in der Welt. Und ich spreche von den Fragen, die daraus entstehen: Wie hinterlasse ich die Welt unseren Enkelkindern? Was haben wir aus der Erde gemacht? Habe ich selbst genug getan, um die Plünderung des Planeten zu verhindern? Es sind Selbstvorwürfe, die sich auf die nachfolgenden Generationen beziehen. Bei solchen Gefühlen ist es nicht möglich, sich einfach zu entschuldigen. Eine derart empfundene Schuld lässt sich nicht abstreifen wie ein lästiges Gewand. Und gerade dieses Gefühl hat zurzeit Konjunktur, weil vieles im Argen liegt.

Wie oder wenn kann ich da um Vergebung bitten?

So ein Bewusstsein, mit dem ich mich selbst in die Verantwortung stelle, ist deshalb schlimm, weil es eine Entschuldigung nicht möglich ist. Entschuldigungen sind immer an die Vergebung der Anderen gebunden. Wenn ich diese Anderen aber gar nicht erreichen kann, was dann? Oder wenn mein Unbehagen aus der Erfahrung von Ohnmacht entsteht, weil die Zusammenhänge zu unübersichtlich sind? Dann ist eine einfache Entschuldigung nicht mehr möglich, dann muss sich die Bitte um eine Vergebung an eine andere Instanz richten. Und da kommt der Glaube ins Spiel. Der Gedanke an Gott, der Sünden vergibt. In solchen Momenten denke ich an das Gebetbuch meiner Großmutter und beneide sie um ihren festen Glauben an die Vergebung.

Musik: Die Fantastischen Vier: Gebt uns ruhig die Schuld

Karl Jasper unterscheidet 4 Formen der Schuld

Was ist mit der Schuld, die ich nicht von Mensch zu Mensch lösen kann? Wie bei der Umwelt, die wir der nächsten Generation hinterlassen. Es muss da doch mehr geben als Ohnmacht. Einen interessanten Aspekt hat dazu Karl Jaspers in die Debatte um Schuld und Sünde gebracht. Jaspers war Philosoph und Psychiater. Auch sein evangelischer Glaube war ihm wichtig. Er befasste sich mit der Frage, wie Menschen mit dem Gefühl von Schuld umgehen.

Kriminelle, politische und moralische Schuld

Dabei unterschied er vier verschiedene Formen von Schuld: Das erste ist für ihn die kriminelle Schuld, die durch Gerichte bestraft wird. Das zweite die politische Schuld. Sie betrifft falsche Entscheidungen, die anderen Menschen schaden. Die dritte ist die moralische Schuld. Dabei geht es um das, was ich in meinem Alltag sage, mache und veranlasse.

Die metaphysische Schuld

Die Unterscheidung von krimineller, politischer und moralischer Schuld ist nachvollziehbar, man kennt sie ja aus dem Alltag. Das Besondere im Denken des evangelischen Philosophen liegt darin, dass er noch eine vierte Stufe der Schuld beschreibt. Er nennt sie die „metaphysische Schuld“.

Ein komplizierter Begriff für ein Phänomen, das doch den meisten Menschen vertraut ist. Er spricht damit das Gefühl der Verantwortlichkeit an. So ein Schuldgefühl entsteht, wenn ich eigentlich helfen müsste und es auch will, aber nicht kann. Wenn die Leidtragenden zu weit weg sind, auf anderen Kontinenten oder erst in der Zukunft leben. Ich fühle mich auf geheimnisvolle Weise mit den nachfolgenden Generationen verbunden, mit den Leidtragenden dieser Welt, ja mit der ganzen Natur. Und doch kann ich nicht helfen. Diese Ohnmacht fördert das Gefühl, nicht nur verantwortlich, sondern auch mitschuldig zu sein.

Manchmal muss ich tatenlos zusehen

Wenn ich in den Nachrichten Bilder von hungernden Kindern sehe, bin ich betroffen, schon weil ich nichts dagegen unternommen habe. Wenn ich von misshandelten Frauen höre oder von Menschen erfahre, die in Kriegen getötet werden, bin ich fassungslos. Es kann auch sein, dass ich Scham empfinde, weil trotz aller Bemühungen Verbrechen geschehen und ich tatenlos zuschauen muss.

Diese zutiefst menschliche Regung meint Jaspers mit „metaphysischer Schuld“. Sie beginnt dann, wenn ich alle Möglichkeiten ausgeschöpft habe, und trotzdem das Gefühl bleibt, mitschuldig an dem Elend zu sein und nichts daran ändern zu können. Diese Form der Schuld wird von keinem Gericht geahndet, dafür ist allein Gott zuständig.

Musik: Johann Philipp Förtsch: Ach, ich elender Mensch,  Interpret:  Weser-Renaissance Bremen, Manfred Cordes

Für metaphysische Schuld ist nur Gott zuständig

Für diese spezielle Schuld, die der Philosoph Karl Jaspers die metaphysische Schuld nennt, ist kein Gericht zuständig. Gerichte urteilen nur über Vergehen. Gefühle und Empfindungen gehören nicht dazu. Sie können noch nicht einmal moralisch verurteilt werden. Deshalb kann ich mich mit diesem Unbehagen nur an Gott wenden. Aber was bedeutet das konkret? Und wie hilft mir das weiter?

Bitte um Vergebung im Vater-Unser

Genau darum geht es auch in dem wichtigsten Gebet der Christen. Ich meine das Vaterunser. Dieses Gebet hat Jesus seinen Jüngern und uns empfohlen. Es soll mir helfen, wenn ich in Not bin. Und tatsächlich stellt das Vaterunser mit der vierten Bitte die Schuld in den Mittelpunkt. Dort heißt es: „Unser tägliches Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.“

Bitte um Brot und Bitte um Vergebung hängen zusammen

Zwei Gedanken kommen mir bei diesen Worten.

Der erste: Die Bitte um Brot hängt zusammen mit der Bitte: Vergib unsere Schuld. Grundversorgung mit Nahrung und Schuld: Beides gehört untrennbar zum Leben dazu. Ich kann nicht auf Essen verzichten. Das bringt mich in eine schwierige Situation, die die Menschen schon in Urzeiten beschäftigte. Es sind ja nicht nur die Tiere, die getötet werden, um Nahrung zu erhalten, der Honig wird den Bienen weggenommen, die Milch den Kühen. Und um Mehl für Brot zu bekommen, muss ich in die Vegetation eingreifen. Das tägliche Essen wird in dem Vaterunserdeshalb aus gutem Grund mit der Vergebung von Schuld zusammengebunden.

Bewusstsein von Schuld entsteht aus Beziehungen

Das zweite, was mir an dem Gebet auffällt: Es ist in der Mehrzahl formuliert. Es heißt nicht etwa „Vergib mir meine Schuld“, sondern „Vergib uns unsere Schuld.“ Warum ist die Bitte in der Mehrzahl formuliert?

Vielleicht, weil ein Bewusstsein von Schuld immer aus einer Beziehung entsteht: Der Mensch, dem ich Unrecht getan, die Natur, die ich nicht genügend geschützt habe. Es ist immer die Beziehung zu einem Gegenüber, aus dem das Gefühl entsteht, für das Elend mitverantwortlich zu sein. Je mehr ich dieses Miteinander bedenke, umso stärker wird das Bewusstsein, mich aus der Not der anderen nicht heraushalten zu können.

Bitte um Vergebung und Hoffnung auf Neuanfang

„Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“ – diese Bitte sagt dann: Ich leugne nicht meine Verantwortung. Ich sehe das eigene Unvermögen. Aber ich hoffe auf einen Neuanfang. Deshalb bitte ich zunächst um Vergebung und biete sie auch meinen Mitmenschen an. Dass die Bitte um Vergebung der Schuld im Vaterunser im Plural formuliert ist, hat auch diesen Sinn: Von Gott erbitte ich Vergebung, aber gewähren müssen wir sie untereinander, von Mensch zu Mensch.

Musik: Francis Poulenc: Le Goût du Malheur, Interpret: Emmanuel Despax

Hilfe zum Leben durch Eingeständnis von Schuld

Was haben diese Überlegungen mit dem Gebetbuch meiner Großmutter zu tun? Was bringt es mir, wenn ich über das Vaterunser-Gebet nachdenke und überlege, warum die Bitte um Vergebung der Schuld im Vaterunser in der Mehrzahl steht?

Für mich hat dieses alte Gebetbuch etwas Faszinierendes und ich beneide die Großeltern, die darin eine Hilfe fanden, um über Schuld und Sünde nachzudenken.  Ich finde: Es hilft zum Leben, wenn ich meine eigenen Verstrickungen benenne, wenn ich Schuldgefühle ausspreche und dann auf Vergebung hoffen kann.

Eingeständnis von Schuld befreit

Für mich stimmt es inzwischen nicht mehr, dass Religionen den Menschen durch ihr Gerede von Sünde klein halten wollen. Nach dem Motto: Wer sich keine Sünden einreden lassen will, ist frei und unabhängig. Früher war dieser Vorwurf berechtigt. Da hat die kirchliche Obrigkeit die Sünde häufig als Druckmittel benutzt. Aber das war ein Missbrauch. Im Gegenteil: Wenn ich Schuld und Sünde ernst nehme, unterdrückt das nicht, sondern befreit.

„Wer von Sünde spricht, denkt groß vom Menschen!“

Die Theologin Julia Knop hat dazu ein leidenschaftliches Plädoyer verfasst. Sie ist Professorin in Erfurt und sagt: „Wer von Sünde spricht, denkt groß vom Menschen!“ Damit bürstet sie das gängige Klischee der Sünde gegen den Strich. Sie geht davon aus: Wenn ich von Schuld und Sünde spreche, setze ich einen mündigen Menschen voraus. Nur der Mensch, der frei entscheidet, kann auch schuldig werden. Nur der Mensch, der die Wahl zwischen Gut und Böse hat, kann schuldig werden. So gesehen machen jene den Menschen klein, die ihm die Freiheit der Entscheidung absprechen. Die persönliche Verantwortung erwächst aus der Freiheit. Die Sünde ist die andere Seite der Freiheit.

Wer von Sünde spricht, spricht von Verantwortung

Wir haben tatsächlich nichts gewonnen, wenn das kirchliche Bild von der Sünde verbannt wird. Wir haben nichts gewonnen, wenn Menschen jedes Bewusstsein von Schuld zurückweisen. Denn wer von der Sünde spricht, spricht damit zugleich von der Verantwortung für die Mitmenschen und unsere gemeinsame Welt. Wer so von Schuld und Sünde redet, denkt groß vom Menschen.

Für die Großeltern war das noch ein routinierter Akt. Sie griffen abends zum Gebetbuch, dachten über das nach, was sie geschafft hatten, und über alle Probleme, die sie nicht lösen konnten. Fanden dort ein Gebet, das sie sprachen, um die Mitmenschen in ihrem Elend nicht zu vergessen. Und am Ende baten sie Gott um Vergebung ihrer Schuld.

Bitte um Vergebung bleibt ein Schatz des Glaubens

Heute haben wir es nicht mehr so leicht. Bei der komplizierten Suche nach den Verantwortlichen, die ich für dies oder jenes die Schuld geben kann, bleibt die eigene Schuld oft auf der Strecke. Und auch die Vergebung verschwindet dann, denn sie ist eng mit dem Bewusstsein von Schild verbunden. Aber sich gegenseitig vergeben, und von Gott Vergebung erfahren, das bleibt beides wichtig. Um den Neuanfang zu finden, und um ruhig leben und abends schlafen zu können. Die christliche Verknüpfung von Schuld und Vergebung ist ein Schatz, der nicht einfach aufgegeben werden sollte.

Musik: Johann Brahms: Klarinettentrio a-Moll op. 114 Andantino grazioso, Interpret:  Andreas Ottensamer, Gautier Capuçon, Yuja Wang

 

Zitathinweise:

Karl Jaspers: Die Schuldfrage. Heidelberg 1946 (Verlag Lambert Schneider) S. 31 und 33.

Julia Knop: Schuld, Sünde und Vergebung - eine theologische Perspektiv. In: Mediation Quartal IV/2018 bibliographie.uni-tuebingen.de/xmlui/bitstream/handle/10900/121541/Knop_078.pdf
                 

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