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Letzte Worte
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Letzte Worte

Martina Patenge
Ein Beitrag von Martina Patenge, Katholische Referentin für Glaubensvertiefung und Spiritualität, Kardinal-Volk-Haus Bingen
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(Musikauswahl: Regionalkantorin Kerstin Huwer, Alsfeld)

Wer mag schon Abschiede? Abschiede sind doch meistens betrüblich. Manche Menschen sagen von sich: „Ich bin kein Abschiedstyp“. Aber wer ist das schon? Abschiede sind und bleiben doch schwierig. Es gibt deshalb verschiedene Wege, damit umzugehen. Manche Menschen vermeiden Abschiede und verschwinden ganz schnell und möglichst kommentarlos. 

Das Miteinander auskosten

In meiner Familie machen wir es genau andersherum. Gerade nicht schnell und kommentarlos. Wir lachen selbst schon darüber. Denn wir zögern die Abschiede jedes Mal hinaus. Vor allem bei den großen Familientreffen. Die kommen ja nicht so oft vor, und dann ist erst mal große Freude, sich wiederzusehen. Aber irgendwann folgt leider auch wieder der Abschied. Bei uns passiert dann immer das Gleiche: Alle haben schon die Jacken angezogen. Haben ihre Taschen und Rucksäcke aufgenommen. Und dann stehen alle herum – in kleinen Grüppchen, an der Garderobe, in der Tür, draußen. Wir können uns noch nicht lösen. Wir brauchen noch ein paar Sätze. Jetzt ist ja noch die Chance, das Zusammensein zu spüren. Für ein paar Minuten sich noch etwas Wichtiges sagen. Das Miteinander auskosten. Es ist ein bisschen merkwürdig, weil wir eben ja viele Stunden miteinander verbracht haben. 

Wir grinsen selbst über diese Marotte unserer großen Familie, weil es seit jeher so verläuft. Ein Gegenmittel haben wir noch nicht so richtig gefunden. Außer vielleicht  abfahrenden Zügen und unruhigen Kindern… 

Wer weiß, wann wir uns wiedersehen?

Aber wenn ich in Ruhe darüber nachdenke, ist diese Marotte eigentlich gar nicht so schlecht. Sie markiert einen wichtigen Übergang. Alle gehen aus einer kostbaren Zeit des Zusammenseins wieder zurück in die einzelnen Lebensbereiche. Meistens haben wir uns ja lange nicht in der großen Gruppe gesehen. Solche Treffen sind deshalb besonders, und wir finden sie wichtig. Und das ist jetzt wieder vorbei. Wer weiß, wann wir uns wiedersehen? Wer weiß, was sich danach alles ereignet? Vielleicht ist noch was Wichtiges zu sagen oder zu fragen? Jetzt oder vielleicht nie! Und so kosten wir die Minuten aus, in denen wir noch zusammen sind. Und spüren noch einmal stark das Verbundensein. Versprechen uns, dass wir in Kontakt bleiben. Diese abschiedlichen Szenen bleiben oft besonders stark im Gefühl haften. Davon angefüllt, kann jede und jeder dann auch wieder in das eigene Leben zurückkehren. Und was wir erlebt haben, wirkt noch lange nach. 

Musik 1: Philip Stopford (*1977): Irish Blessing (CD: Love Never Ends, The Ecclesium Choir,, Ltg. Philip Stopford, Track 21, 2:39).  

Der endgültige Abschied von Jesus

Auch das Kirchenjahr befindet sich gerade in einer abschiedlichen Zeit. Erst war Ostern mit Tod und Auferstehung von Jesus. Die Bibel erzählt dann von aufregenden Begegnungen danach zwischen den Jüngerinnen und Jüngern, die das kaum fassen können – und ihrem Jesus. Er ist verändert, nicht immer erkennen sie ihn auf Anhieb, doch er ist noch einmal mitten unter ihnen. Aber dann folgt die Himmelfahrt – sie wurde am Donnerstag in dieser Woche gefeiert. Das ist nun der endgültige Abschied von Jesus. Von nun an wird er nicht mehr direkt bei seinen Lieben sein. Die Bibeltexte, die in diesen Tagen in den katholischen Gottesdiensten gelesen werden, reflektieren noch einmal das ganze Geschehen. Von hier aus gesehen – Jesus ist nicht mehr greifbar – wird alles, was er gesagt hat, was er getan hat und wie er gelebt hat, noch einmal viel verständlicher. Der rote Faden wird erkennbar, der ihn geleitet hat in den Jahren. Es hat seine Zeit gedauert, die Zusammenhänge zu verstehen. 

Er wollte sie behüten

Die traurigen Jüngerinnen und Jünger haben erst einmal den Schock seines Todes ein wenig verkraften müssen. Danach die aufregenden Begegnungen mit dem Auferstandenen, und schließlich den endgültigen Abschied. Nach und nach erst können sie verstehen, was Jesus ihnen hinterlassen hat. Und was er ihnen ins Herz gelegt hat. 

In der Bibel, im Evangelium des Johannes, werden diese Gedanken in Form von Abschiedsreden erzählt. Sie sind so was wie das Testament von Jesus. Fassen noch einmal zusammen, was ihm wichtig war und wofür er gelebt hat und gestorben ist: Er hat seinen Jüngerinnen und Jüngern Gott gezeigt – er wollte sie behüten vor falschen Wegen – und er sagt ihnen noch einmal, wie sehr er sie liebt. Am Schluss seiner Abschiedsrede wendet sich Jesus an Gott, den er seinen Vater nennt. Und er betet: 

„Vater, ich habe deinen Namen den Menschen offenbart, die du mir aus der Welt gegeben hast. Heiliger Vater, bewahre sie in deinem Namen, den du mir gegeben hast, damit sie eins sind wie wir! Solange ich bei ihnen war, bewahrte ich sie in deinem Namen, den du mir gegeben hast. Und ich habe sie behütet…“ (Johannesevangelium 17,6a und 11b) 

Musik 2: Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847): Denn Er hat seinen Engeln befohlen über dir (aus Elias) (CD: Romantische Chormusik, Dresdner Kreuzchor, Ltg. Gothart Stier, Track 9, 2:53). 

Aus dieser Freude soll ihre Kraft kommen

In seinem großen Abschiedsgebet bittet Jesus für seine Jüngerinnen und Jünger. So steht es im Johannesevangelium in der Bibel. Mehrfach bittet er darum, dass seine Freundinnen und Freunde bewahrt bleiben „in Gottes Namen“, damit sie untereinander in Gemeinschaft bleiben. Jesus sagt, dass zunächst er sie bewahrt und behütet hat. Denn er hat die Jüngerschar geschult, ihm zu vertrauen. Sie sollten sein Bild des barmherzigen Gottes verinnerlichen und glauben. Er wollte sie vor der Angst bewahren vor einem strafenden Gott. Sie sollten Freude an Gott kennenlernen. Aus dieser Freude soll ihre Kraft kommen, in der Welt Gutes zu tun. Sich um die Schwachen zu kümmern und um die Suchenden und die, die ihre Ziele verloren haben. Das hat er ihnen eingeschärft und daran erinnert: Sie dürfen Freude an Gott haben. Sie dürfen froh sein, an diesen Gott glauben zu können. Deshalb hat Jesus in seinen vielen Predigten viele verschiedene Bilder gefunden von Gott: Er ist wie ein gütiger König oder wie ein liebender Vater, wie ein gerechter Verwalter, er ist der, der Schuld vergibt und die Herzen und Seelen heilt – das alles und doch immer noch mehr davon. Die ganze Bandbreite an Bildern ist ungeheuer viel und groß. Was und wie Gott ist, kann ein gottsuchender Mensch, selbst der Frömmste, immer nur in kleinen Portionen ergreifen. 

Er hat es wohl geahnt, dass seine Zeit zu Ende geht

„Ich habe den Menschen gezeigt, wer du bist“ heißt es in einer anderen Formulierung. Das war der Auftrag von Jesus, dafür hat er gelebt und gekämpft. Um den Menschen zu zeigen, wer Gott ist, hat er sich den Menschen ausgesetzt, mit ihnen gelebt und das menschliche Leben geteilt, hat mit ihnen gefeiert, geweint, geredet, gestritten, hat sie durch sein Verhalten auch geärgert oder verwirrt, und vor allem hat er geheilt und gesegnet. Und das alles, so wünscht er sich und bittet Gott darum, soll auch nach seinem Abschied in ihnen präsent bleiben und ausstrahlen und in die Welt hineinwirken. 

Musik 3: Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847): Sonate f-moll op. 65,1 - 2. Adagio (CD: Felix Mendelssohn-Bartholdy - (1809-1847) Sonaten für Orgel op. 65 Nr. 1 - 6 Christoph Schoener an der Stumm-Orgel der ehem. Abteikirche Amorbach, Track 2, 2:45) 

Jesus hat damals wohl geahnt, dass seine Zeit zu Ende geht – mit der Obrigkeit hatte er es sich ja gründlich verscherzt. In dieser kritischen und immer gefährlicheren Phase versucht er, noch einmal alles zusammenzufassen, was ihm wichtig war. Er hat sozusagen sein mündliches Testament hinterlassen. Damit alle, die mit ihm unterwegs sind und auf ihn vertrauen, wirklich verstehen, was wichtig ist. Und noch viel mehr: Damit sie eine Kurzfassung davon haben, wie sie auch ohne ihn leben sollen. Und leben können. 

Und so endet seine Abschiedsrede

Das wird ihnen gelingen, wenn sie durch ihn in enger Gemeinschaft mit Gott bleiben. Und so endet diese Abschiedsrede Jesu: 

„Gerechter Vater, wenn die Welt dich auch nicht kennt, ich kenne dich, und auch diese meine Freunde haben erkannt, dass du mich gesandt hast. Ich habe ihnen gezeigt, wer du bist; das werde ich auch weiter tun. So wird deine Liebe zu mir auch sie immer mehr erfüllen: Ja, ich selbst werde mit ihnen untrennbar und vollkommen eins sein.“

(Johannesevangelium 17,25 f – Übersetzung Albert Kammermayer) 

Untrennbar und vollkommen eins… das klingt erst einmal fast romantisch. Und es gibt auch tatsächlich solche glücklichen Glaubens-Momente. In der Begleitung von Exerzitien durfte ich das oft miterleben, und es hat auch mich dann selbst sehr glücklich gemacht – wenn die Gäste eine besondere Nähe mit Jesus für ein paar Tage sehr innig spüren durften und mir davon erzählt haben. Ich habe sie immer dazu ermutigt, diese Zeit zu genießen und tief in sich aufzunehmen. Später, zu Hause, würden wieder die Zeiten und Aufgaben kommen, in denen sich der Glaube bewähren muss. Nicht mehr mit aufregenden Empfindungen. Sondern als „Schwarzbrot“ für den Alltag. 

Die Rede von Nawalny, eins der stärksten Beispiele 

Musik 4: Taizé: Gott ist nur Liebe (Bóg jest miłością) (CD: Venite Exultemus Taizé, Track 5, Fadeout bei ca. 1:33) 

Glaube als Schwarzbrot für den Alltag – es ist wichtig, einander davon zu erzählen, wie Glaube zum Leben hilft. 

Eins der stärksten Beispiele der jüngsten Zeit ist für mich die Rede von Alexey Nawalny, die er 2021 vor dem Stadtgericht in Moskau gehalten hat. Vier Wochen zuvor war er freiwillig nach Moskau zurückgekehrt und noch direkt am Flughafen verhaftet worden. Seine Worte vor Gericht sind so etwas wie seine Abschiedsrede geworden. 

Nawalny beginnt so: „Tja, ich soll also mein Schlusswort sprechen – spreche ich also mein Schlusswort. Ich weiß gar nicht mehr, was ich noch sagen soll, Euer Ehren...Die Sache ist nämlich die: Ich bin ein gläubiger Mensch. ...und das hilft mir sehr bei dem, was ich tue. Es macht alles viel, viel einfacher. Ich grüble weniger, ich habe weniger Dilemmas in meinem Leben – denn es gibt da so ein Buch, das mehr oder weniger genau beschreibt, was man in welcher Situation zu tun hat. Es ist natürlich nicht immer einfach, sich daran zu halten, aber ich versuche es im Großen und Ganzen. Und deshalb fällt es mir wohl leichter als vielen anderen, in Russland Politik zu machen….“   

Warum hat er das so entschieden?

Mir hat es fast den Atem verschlagen, als ich gehört habe, wie sehr da ein Mensch aus der Kraft seines Glaubens lebt und handelt – scheinbar gegen jede Logik. Und in großer Gefahr, in Lebensgefahr. Denn kaum jemand hat vermutlich verstehen können, wieso er heimgekehrt ist nach Russland, nachdem er das Attentat des Staates auf sein Leben nur sehr knapp überstanden hatte. Warum hat er das so entschieden? In seinem Schlusswort vor dem Gericht finde ich die Antwort. Und die ist stark und beeindruckend. Erst einmal zitiert er, wie ihn jemand verspottet:

 „Du, Nawalny….du hast doch in einem Interview gesagt, du glaubst an Gott. Und es steht ja geschrieben: Selig sind, die da hungern und dürsten nach Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden. Dann geht es dir doch bestens“ – Und ich dachte mir: Da versteht mich ja jemand richtig gut! Nicht, dass es mir gerade bestens ginge, aber dieses Gebot habe ich immer als Handlungsanweisung verstanden. Es macht mir zwar keinen Spaß, hier zu sein, aber ich bedauere auch keinesfalls meine Rückkehr und das, was ich gerade tue. Denn ich habe alles richtig gemacht. Ich fühle sogar so etwas wie Genugtuung, weil ich in einer schwierigen Zeit das getan habe, was in der Anweisung steht. Ich habe das Gebot nicht verraten.“ 

Von dieser Kraft bin ich weit entfernt

Vor so viel Mut und Klarheit kann ich mich nur verneigen! Wie ernst Nawalny seinen Glauben genommen hat. Wie sehr er auch in der größten Lebensgefahr in seinem Glauben bewahrt worden ist. Und ich hoffe und wünsche, dass Gott ihn bis zu seiner Todesstunde davor bewahrt hat, dauerhaft zu verzweifeln. 

Wenn es mir gelingen würde, wenigstens einen Teil dieser Glaubensstärke zu entwickeln, wäre ich glücklich! Von dieser Kraft und Konsequenz bin ich weit entfernt. Und kann mich dem sicher nur millimeterweise nähern. Aber ich wünsche es auch allen Mitglaubenden, die nach Gott suchen und sich nach ihm ausstrecken. Und sage es noch einmal mit den Abschiedsworten von Jesus aus der Bibel: „Ich habe ihnen gezeigt, wer du bist; das werde ich auch weiter tun. So wird deine Liebe zu mir auch sie immer mehr erfüllen: Ja, ich selbst werde mit ihnen untrennbar und vollkommen eins sein.“ 

Musik 5: Lelia N. Morris (1862-1929): Nearer, Still Nearer (Näher, noch näher) (CD: Freiburger Chorbuch 2 (Chormusik zur Liturgie) - Rastatter Hofkapelle, Ltg. Jürgen Ochs, Track 13, 2:54).

 

 

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