Ihr Suchbegriff
Beitrag anhören:
Du meine Seele, singe
Bild: Pixabay / Agbessatal Alaev0

Du meine Seele, singe

Gabriele Heppe-Knoche
Ein Beitrag von Gabriele Heppe-Knoche, Evangelische Pfarrerin, Kassel
Beitrag anhören:

Eine begeisterte Chorsängerin erzählt mir: „Musik ist für mich Leben. Ohne Musik könnte ich nicht leben. Ständig habe ich Musik im Kopf, ob ich im Garten arbeite, ob ich koche oder etwas anderes tue. Sie ist mein Motor.“

Ich frage einen Freund, was ihm Musik bedeutet. Er antwortet mir: „Ich höre Musik eigentlich nur, wenn ich allein bin. Dann suche ich alte Songs aus meinen Jugendjahren raus, von den Doors oder von Pink Floyd. Und beim Hören denke ich an alte Zeiten, an Sachen, die ich damals erlebt habe und an Menschen, mit denen ich damals viel zusammen war. Musik, das ist für mich Entspannung und Erinnerung. Musik ist Gefühl.“

Das sind nur zwei Stimmen. Hätte ich noch mehr Menschen gefragt, würde ich bestimmt noch vieles andere zu hören bekommen. Denn Musik ist für die meisten Menschen etwas ganz Unmittelbares. Sie weckt oft Gefühle, löst innere und äußere Bewegung aus. Viele werden fröhlich durch Musik, vielleicht auch ausgelassen. Singen, wippen, klatschen mit. Manchmal wird gemeinsam getanzt. Musik weckt Lebensfreude. Sie kann Menschen verbinden, die sich fremd sind. Schafft Gemeinschaft, manchmal nur für einen kurzen Zeitraum.

Aber nicht nur das. Musik trifft Menschen in ganz unterschiedlichen Gefühlslagen. Gerade auch dann, wenn jemand allein ist, ganz gezielt Musik hört, ohne Ablenkung, so wie mein Freund. Ganz versunken in Gedanken und Erinnerungen. Meist steigen durch die Musik Bilder in Menschen auf. Sie tröstet dann und weckt Zuversicht. Sie kann uns auch ruhig werden lassen, helfen die Gedanken und Gefühle zu ordnen. So vielfältig wie wir Menschen sind, so vielfältig ist auch die Musik. Beim Hören bringt jede und jeder auf seine ganz eigenen Weise seine Gefühle zum Ausdruck: Lebensfreude, Melancholie, Hoffnung oder Trauer, Glück oder Enttäuschung. Den einen holt vielleicht eine Schlagermelodie ab und die andere vertieft sich in Bach oder Beethoven. Ob getrommelt oder gesungen, ob ohrenbetäubende Rockmusik oder ein Symphoniekonzert mit großem Orchester: ganz unterschiedlich spricht Musik Menschen an, ergreift sie und nimmt sie mit.

Musik: Pink Floyd: “Wish you were here” 

Kein Wunder also, dass Musik auch in der Kirche eine große Rolle spielt. Auch hier geht es um den Menschen in seinem ganzen Sein. Zu jedem Gottesdienst gehört auch die Musik. Die Orgel, der gemeinsame Gesang, manchmal sogar ein Chor. Für etliche Gottesdienstbesucher sind die Melodien und gesungenen Worte ganz wichtig. Sie begleiten sie oft noch auf ihrem Weg nach Hause. Sie geben eine Stimmung mit, die den Gottesdienst geprägt hat.

Für die Entwicklung der Musik im Gottesdienst hat die Reformation eine große Rolle gespielt. Die Messe wurde bis dahin in lateinischer Sprache gefeiert.

Luther aber legte großen Wert darauf, dass die Gläubigen auch verstehen, was gesagt und gesungen wird. Deshalb predigte er in den Gottesdiensten nicht nur in deutscher Sprache. Er übersetzte sogar die Psalmen in deutsche Sprache und dichtete und komponierte die ersten Gemeindelieder. In einem Brief an den Sekretär des Kurfürsten Friedrich der Weise schreibt er: „Ich habe den Plan…deutsche Psalmen für das Volk zu schaffen, das heißt, geistliche Lieder, damit das Wort Gottes auch durch den Gesang unter den Leuten bleibt.“ Luther weiß also, wie viel leichter sich Worte merken lassen, wenn sie mit einprägsamen Melodien immer wieder gesungen werden.

Bereits 1524 sind einzelne Druckblätter mit evangelischen Liedern erschienen. Und aus den Einzelblättern wurde dann das „Achtliederbuch“ gestaltet. Im gleichen Jahr wurde es noch veröffentlicht. Dieses „Achtliederbuch“ gilt als das erste evangelische Gesangbuch. In diesem Jahr feiern wir sein 500jähriges Jubiläum.

Musik: „Nun freut euch, lieben Christen g’mein“, Strophe 1 

Bis in die 60ger, 70ger Jahre des letzten Jahrhunderts hinein war das Gesangbuch für viele Menschen zugänglicher als die Bibel selbst. Die Sprache der Bibel war an vielen Stellen schwer verständlich und es ist ja auch nicht so einfach, bestimmte Textstellen zu finden. Da waren die Lieder aus dem Gesangbuch vielen vertrauter. Immer wieder im Gottesdienst gesungen. So prägten sich die Texte leicht ein. Für regelmäßige Kirchgänger bildete sich so ein Schatz an christlichen Liedern. In den unterschiedlichsten Lebenslagen konnten sie darauf zurückgreifen. Dank und Lob an den festlichen Tagen, Bitten um Hilfe und Beistand in schweren Zeiten.

Ich sehe noch meine Großmutter vor mir, die bei schweren Unwettern mit dem Gesangbuch in der Hand am Küchenfenster saß. Ich weiß nicht, welches Lied sie aufgeschlagen hatte. Aber ich habe gespürt: In den alten vertrauten Worten hat sie Halt gefunden.

Inzwischen kann ich das gut nachvollziehen. Wie oft kommen mir selbst Gesangbuchlieder in den Sinn. Zu den großen christlichen Festen natürlich, Weihnachts- oder Osterlieder. Aber auch wenn ich traurig bin, wenn ich erschreckt und entsetzt bin, was Menschen einander antuen. Dann hilft es mir zu singen: „Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt, der allertreusten Pflege des, der den Himmel lenkt.“ Und auch jetzt im Frühjahr, wo alles wieder grünt und blüht, wo das Leben sich wieder Bahn bricht in der Natur und uns hinaus ins Freie lockt. Da tut es gut, einfach zu singen, allein und auch gemeinsam.

Viele meiner Lieblingslieder im Gesangbuch sind von Paul Gerhardt. Für mich bedeuten die Lieder, die er gedichtet hat, Halt und Trost. Sie vermitteln mir auch Freude und Fröhlichkeit. Das eben schon erwähnte „Befiehl du deine Wege“ zum Beispiel und „Geh aus, mein Herz, und suche Freud“. Ich kann mich diesen einprägsamen Worten nicht entziehen. Von den etwa 130 Liedern, die er gedichtet hat, finden sich 26 in unserem aktuellen Gesangbuch. Eines seiner Lieder mag ich besonders. Es hat im Gesangbuch die Nr. 302. Ein Lob- und Danklied. „Du meine Seele singe, wohlauf und singe schön.“ Ein Lied, das in allen 8 Strophen das Lob Gottes singt.

Warum soll gerade die Seele singen? Das hebräische Wort für Seele ist näphäsch – Ein Wort, das viele Bedeutungsgehalte in sich trägt. Gehe ich ihnen nach im Lexikon, stoße ich auf Begriffe wie Lebensatem oder Hauch des Lebens, oder gar Leben selbst. Die Seele also meint den Ort im Menschen, wo vielleicht die unmittelbarste und ursprünglichste Verbindung zum Leben selbst, zu Gott, verankert ist. Aus dieser ursprünglichen Verbindung heraus wird Gott gelobt. So wie der Atem in uns ein- und ausströmt, so wie der Atem Töne und Worte hervorbringt. So unmittelbar, so selbstverständlich erklingt das Lied unserer Seele vor Gott.

Musik: „Du meine Seele, singe“, Strophen 1 und 2, Fassung für Chor 

Ich staune, wie Paul Gerhardt sich mit seiner Dichtung in der Tradition verwurzelt. Er spricht in diesem Lied nicht von Jesus Christus, sondern von Jakobs Gott und Heil. Auf ihn zu schauen, auf ihn sich ausrichten – das schafft Halt und Zuversicht für ein ganzes Leben. Jakobs Gott und Heil – damit stellt Paul Gerhardt sich und alle, die sein Lied singen, hinein in den weiten Zusammenhang der jüdisch-christlichen Tradition. Abraham, Isaak und Jakob - die Stammväter im Alten Testament. Sie stehen alle für tiefes Gottvertrauen, auch in schwierigen Zeiten. Sie gehen ihren Weg mit Gott. Nie verlieren sie die Hoffnung. Immer wieder verlassen sie sich auf Gottes Zusagen. An ihnen kann ich mir ein Beispiel nehmen. Und das bedeutet:

Ich muss mich selbst und mein Leben nicht immer wieder neu erfinden. Ich kann mich verlassen auf den Gott, auf den sich schon viele Generationen vor mir verlassen haben. Immer wieder schöpfe ich aus dem Reichtum an Texten, Liedern und Gebeten, die sie uns vererbt haben. Vielleicht müssten sie heute, wie damals bei Luther, übertragen werden in eine neue Sprache. Aber manchmal sind es auch gerade die alten Worte, die Menschen in Verbindung bringen mit der lebensspendenden Kraft, die sie erfahren haben.

In Jakobs Geschichte mit Gott ist nicht nur der Blick zurück wichtig, zurück auf den Glauben der Vorväter Abraham und Isaak. Nein, in den Geschichten von Abraham, Isaak und Jakob ist gerade der Blick nach vorne entscheidend, der Blick auf die Kinder, die Nachkommenschaft. Auf ihnen ruht alle Hoffnung. Durch sie lebt der Glaube, lebt die Beziehung zwischen Gott und seinem Volk weiter.

Tradition entsteht in einer langen gemeinsamen Geschichte. Sie lebt davon, dass sie weitergegeben wird an Kinder und Kindeskinder. Damit tun wir uns heute schwer. Der persönliche Glauben ist für viele Menschen zu intim geworden. Deshalb fällt es ihnen nicht leicht, darüber zu sprechen. Und einige zweifeln auch am Wahrheitsgehalt bestimmter Geschichten. Aber Kinder fragen oft gar nicht nach dogmatischen Wahrheiten. Sie wollen einfach nur wissen, was ihre Eltern hoffen, worauf sie vertrauen, was ihnen Mut macht, was ihnen wichtig ist. Sie fragen nach Werten und Überzeugungen. Und sie schauen sie bei den Eltern ab als Orientierung für ihr eigenes Leben.

Deshalb habe ich meine Kinder taufen lassen. Es hat mich entlastet, das Leben meiner Kinder in der Taufe in Gottes Hand zu legen. Bei aller Liebe habe ich doch sehr deutlich gespürt, dass ich allein ihr Leben nicht bewahren kann. Und ihre Lebensentscheidungen kann ich immer weniger beeinflussen, je älter sie sind. Da tut es gut, ihr Leben unter Gottes freundlichem Blick zu wissen, die eigenen Grenzen anzuerkennen und loszulassen.

Jakobs Gott und Heil. - „Wer dem sich anvertrauet,“, so dichtet Paul Gerhardt, „Wer dem sich und seine Kinder anvertrauet“, so möchte ich ergänzen, „der hat das beste Teil“.

Musik: „Du meine Seele, singe“, Strophen 3 und 4, Fassung für Solostimme und Instrumente 

Woran erkenne ich Gott? Wo sehen Menschen ihn am Werk? Die Fragen der Kinder führen oft an diesen Punkt, wo viele nach Hinweisen suchen. Das Lied sagt: Die starken Kräfte können wir ganz schlicht und unmittelbar um uns herum erkennen.

Der Himmel und die Erde, die Fische und das Meer – ich könnte so vieles ergänzen, was mich jeden Morgen neu Gott loben lässt. Gerade jetzt in dieser Jahreszeit ist es einfach wunderbar, morgens aus dem Fenster zu sehen. Die Farben des Frühjahrs lassen mich, das gebe ich zu, alles Kritische vergessen, den Klimawandel, den fehlenden Regen, die Sorge der Bauern. Beim Spaziergang sehe ich nur das Gelb der Rapsfelder. Ich sehe das frische Grün der Wiesen und den glitzernden Teich. Ich sehe die Tulpen in unserem Garten und ich kann nicht anders, als Gott für all dies zu danken, aus tiefstem Herzen. Dazu muss ich gar nicht nachdenken. Darum geht es: Dankbar sein für das Alltägliche und hin und wieder aus Freude darüber ein Loblied singen. Diese Fähigkeit möchte ich mir bei allem Nachdenken bewahren.

Musik: „Du meine Seele, singe“, Strophen 5-7, Fassung für Solostimme und Instrumente 

Nachdem Paul Gerhardt über die Tradition, aus der wir kommen und die Welt um uns herum nachgedacht hat, kommt er nun in seinem Lied auch zum Menschen. Es geht ihm um den Menschen, den Gott errettet aus dem Tod.

Paul Gerhardt hat während des 30jährigen Krieges viel Schreckliches erlebt. Ganze Dörfer wurden in Deutschland ausgelöscht. Ich stelle mir vor, mit wie viel Tod und Grausamkeit er in seinem Leben konfrontiert wurde. Trotzdem kann er dichten: Er weiß viel tausend Weisen, zu retten aus dem Tod. Das verwundert und beeindruckt mich. Seine Hoffnung verlässt ihn nicht, auch wenn Menschen umkommen und Hunger leiden müssen. Auch wenn Eltern ihre Kinder verlieren, so wie er selbst.

Auch wenn Kinder zu Waisen werden durch Krankheiten und Krieg. Da, wo ich für meinen Glauben nicht garantieren könnte, lässt Paul Gerhardt sich nicht beirren. Gerade da erweist sich für ihn Gottes Nähe und Gottes Gerechtigkeit, weil er in bedrohlichen Zeiten die Menschen nicht alleine lässt. Wie schon im vorderen Teil seines Liedes bezieht er sich dabei stark auf das Alte Testament. Er spricht genau die Dinge an, die dort als Maßstab für ein Miteinander genannt werden, wie es Gott gefällt. Fremde werden aufgenommen, nicht ausgegrenzt. Witwen und Waisen werden versorgt und bleiben Teil der Gemeinschaft. Dabei werden auch die Mitmenschen in die Pflicht genommen. Durch sie, also auch durch uns, handelt Gott an denen, die Hilfe brauchen.

Er spricht nicht von denen, die stark sind, die Fähigkeiten und Vermögen haben, sich selbst zu helfen. Er spricht von denen, die ganz und gar angewiesen sind. Für die tritt Gott ein, denen wird er Freund, Vater und Mann.

Und ganz gegen unsere heutigen Vorstellungen wagt er auch zu sagen: Gott wendet sich von denen ab und verfolgt die mit Zorn, die ihn hassen und seine Gebote und seine Güte missachten.

Im Mittelpunkt aber der Verse 4 - 7 steht die feste Zusage, dass Gott besonders denen beisteht, die Not leiden. Denen ist er ganz nah.

Musik: „Du meine Seele, singe“, Strophe 8, Fassung für Chor

„Du, meine Seele, singe...“ Gott loben für alles, was mein Leben trägt und erhält. –Dazu lädt das Lied mit seiner fröhlichen Melodie ein. Das meint nicht nur mich. Das meint alle, die ihr Leben Gott anvertrauen. Das ist ein schöner Gedanke. Ich stelle mir vor, wo überall auf der Welt jetzt in diesem Moment Menschen Gottes Lob singen. In Afrika, in Asien oder Nord- und Südamerika. In vielen Sprachen – mit vielen unterschiedlichen Melodien. Ich bin nur eine Stimme in diesem Gesang. Aber ich gehöre dazu, stimme ein in diesen großen vielstimmigen Chor. Um Gottes Lob zu singen. „… sein Lob vor aller Welt.“

Musik: Heinrich Schütz: „Jauchzet dem Herren, alle Welt“ SWV 493 

Weitere ThemenDas könnte Sie auch interessieren