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Das Drama der Geburt
Bild: Pixabay Cynthia_groth

Das Drama der Geburt

Dr. Willi Temme
Ein Beitrag von Dr. Willi Temme, Evangelischer Pfarrer, Martinskirche Kassel
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Ich möchte Ihnen heute Morgen von einem Taufgespräch erzählen, das in mehrfacher Weise besonders war. Ich hörte Dinge, die ich so noch nie gehört hatte. Und mein Herz, das in solchen Gesprächen an sich ruhig schlägt, klopfte mit einem Male deutlich schneller. Wie war es dazu gekommen?

Taufgespräch

Bevor ich ein Kind taufe, gibt es in der Regel im Vorfeld ein Taufgespräch. Da setzt sich dann die Mutter und der Vater des Kindes (manchmal ist es auch nur die Mutter) mit mir, dem Pfarrer, zusammen und bespricht, was zu besprechen ist. Manchmal ist dieser Kreis auch etwas größer: Vielleicht sind dann auch Paten mit dabei oder nahe Familienangehörige. Und natürlich bringen die Eltern oft auch ihr Kind mit, das getauft werden soll, und manchmal auch die Geschwister.

In diesem Fall waren Frau und Herr Schröder mit ihrer kleinen Tochter Anna zu mir in mein Pfarrbüro gekommen. Anna war gerade erst vor drei Monaten auf die Welt gekommen, und während des ganzen Gesprächs, war sie ganz ruhig und schlummerte ein wenig an der Mutterbrust.

Erzählung von der Geburt

Das Besondere dieses Gesprächs war, dass mir die Eltern ganz ausführlich von der Geburt des Kindes erzählten. Unabhängig von dieser Taufe war nämlich „Geburt“ das Thema des nächsten Gottesdienstes. Und so brachte ich in dieses Gespräch ein eigenes Interesse mit hinein:

Wie war das mit der Geburt Eures Kindes? Würdet Ihr mir vielleicht darüber etwas genauer was erzählen? Und dürfte ich vielleicht darüber auch im Gottesdienst berichten?

Frau und Herr Schröder stimmten zu. Und so kam es zu diesem besonderen Gespräch. Und mit der Zustimmung der beiden Eltern, deren Namen ich hier verändert habe, wie auch den Namen des Kindes, möchte ich auch Ihnen berichten, wie es sich mit der Geburt von Anna Schröder zugetragen hat.

Sequentia, Instrumentalstück II (Hildegard von Bingen)

Die Schilderung der Geburt der kleinen Anna stieß bei mir auf großes Interesse. Ich selber habe keine Kinder und war auch noch nie bei einer Geburt dabei.

Eigene Erinnerungen an Geburt eines Kälbchens

Wobei, so ganz stimmt das denn doch nicht: In meiner Kindheit hatten wir zuhause nämlich eine kleine Landwirtschaft. Und da erinnere ich mich doch verschwommen, mal dabei gewesen zu sein, als in nächtlicher Stunde ein kleines Kälbchen das Licht der Welt erblickte. Und ich erinnere mich an die ganze Aufregung, die es da gab: Männer in Gummistiefeln mit Stricken in der Hand. Und irgendwie erinnere ich mich auch dunkel, wie das kleine Wesen mit viel Kraft und Aufwand und mit starkem Gebrüll des Muttertiers aus dem Mutterschoß gezogen wurde.

Geburt eines Menschen noch nicht miterlebt

Also muss ich sagen: Ich war noch nie bei einer Geburt eines Menschen dabei!

Im Unterschied zu Frau und Herrn Schröder. Mit der Geburt von Anna hatten sie das nun schon zum zweiten Mal erlebt. Zwei Jahre zuvor war bereits ihr Sohn Martin zur Welt gekommen.

Und nach all diesen Vorreden sind wir nun endlich bei der eigentlichen Geschichte angekommen. Und nun kann es los gehen. Mit der Geburt Annas verhielt es sich so:

Die Geburt der kleinen Anna

Der ausgerechnete Geburtstermin war schon längst verstrichen. Und das Kind machte noch überhaupt keine Anstalten, das schöne Leben im Mutterbauch zu verlassen. Gedanken kommen dann, ob man da jetzt vielleicht etwas nachhelfen sollte. Oder soll man doch einfach nur zuwarten und der Natur vertrauen?

Erste Wehen und Geburtswehen

Frau und Herr Schröder entschieden sich fürs Warten. Denn Wehen traten durchaus auf in dieser Zeit – nur waren es eben nicht die Geburtswehen (ich bekenne: erst durch unser Gespräch habe ich gelernt, dass es da einen Unterschied gibt!)

Mittlerweile zog sich das Warten schon Wochen hin – bis dann endlich, es war der Tag vor der Geburt – Wehen einsetzten, die sich deutlich anders anfühlten. Waren die bisherigen Wehen eher als ein Ziehen zu bezeichnen, so kamen die Geburtswehen nun als drückender Schmerz daher, der sich vor allem im unteren Rücken ausbreitete. Hier passierte nun offensichtlich etwas Neues.

Sequentia, Instrumentalstück III (Hildegard von Bingen) 

Es ist soweit

Die starken Geburtswehen signalisierten der Mutter: es ist soweit!

Der Tag der Geburt der kleinen Anna sah dann so aus: Um 4 Uhr morgens hat Frau Schröder das Gefühl: jetzt könnte es tatsächlich losgehen. Denn der Abstand der Wehen lag jetzt unter 7 Minuten.

Trotzdem aber hat Frau Schröder noch nicht gleich Ihren Mann geweckt.

Um 5 Uhr wurde dann auch Herr Schröder wach.

Oh, jetzt geht es los! Schnell noch Vorsorge treffen für den kleinen Martin, den bald darauf die Großeltern in ihre Obhut nehmen.

Dennoch Ruhe behalten

Zum Verwundern für mich: die jungen Eltern haben bei all dem Aufregenden doch noch sehr die Ruhe behalten.

Erst um 6.30 Uhr haben die beiden sich dann ins Auto gesetzt und sind       losgefahren ins Krankenhaus.

Als sie dann gegen 7 Uhr dort ankamen, betrug der Abstand der Wehen nur noch 3 Minuten.

Im Kreissaal

Kreissaal. Es beginnen Untersuchungen.

Von 8-12 sind die beiden im Kreissaal, die werdende Mutter unter  heftigsten Schmerzen. Immer wieder mal Bewegen zwischendurch. Die Schmerzen gehen jetzt an die Grenze des Erträglichen.

Um 12 Uhr gibt es nochmal eine Untersuchung. Jetzt platzt die Fruchtblase. Und eine dritte Form von Wehen setzt ein. Drei heftige Presswehen sorgen nun dafür, dass das Kind schließlich um 12.30 Uhr das Licht der Welt erblickt. Vollbracht!

Anna erblickt das Licht der Welt

Die kleine Tochter wird der Mutter gleich auf den Bauch gelegt (früher hat man das nicht so gemacht, habe ich gelernt), und die kleine Anna sucht und findet die Mutterbrust. Die Kleine kommt gleich mit viel Appetit auf die Welt. Sie trinkt und trinkt - zwei Stunden lang!

Das Trinken beginnt schon, als das Kind noch an der Nabelschnur hängt. Die wird jetzt irgendwann nach 5-10 Minuten durchtrennt. Und ein eigenes, selbständiges Wesen ist ganz in der Welt angekommen.

Mit Abschluss der Nachgeburt ist dann der Geburtsvorgang beendet.

Große Gefühle

Unglaublich. Extreme Gefühle. Wunderbar. Unheimlich. Urkräfte am Werk.

Ein Erleben zu groß, um in Sprache ausgedrückt werden zu können.

J.S. Bach, „Geist und Seele wird verwirret“, BWV 35, No. 1: Concerto 

Worte sind nicht imstande, um zu beschreiben, was es mit dem Geschehen der Geburt auf sich hat.

Zumal Worte aus dem Munde von Männern, die das alles nur indirekt miterleben können. Mütter erleben hier etwas ganz Einzigartiges.

Jedes Leben beginnt mit der Geburt

Wobei: als Säugling waren wir da ja alle schon Beteiligte am Vorgang der Geburt: Jungs und Mädchen, Männer und Frauen. Wir alle haben es schon miterlebt – nur dass wir uns halt nicht mehr daran erinnern können.

Wir alle sind geboren von einer Mutter. Von unserer Mutter. Bei uns allen begann das Leben mit einem so außerordentlichen Drama, in dem nicht zuletzt Schmerzen eine große Rolle spielen.

Gefühl von Dankbarkeit stellt sich ein

Im glücklichen Fall, so wie bei der Geburt von Anna, ist dies ein ganz natürlicher Vorgang. Und wenn Mutter und Kind dann wohlauf sind, sind die Schmerzen bald vergessen. Und ein großes Gefühl von Wunderhaftem und von Dankbarkeit kann sich einstellen.

Für manche ist Thema Geburt auch schmerzlich und traurig

Wir wissen aber auch: das ist längst nicht immer der Fall. Geburt – das ist für viele Menschen durchaus ein sehr schmerzliches bis trauriges Thema.

Da gibt es den Kinderwunsch, der nicht realisiert werden kann. Viele     Paare leiden darunter.

Da gibt es Komplikationen in der Schwangerschaft. Sie können zu Fehlgeburten führen. Und Fehlgeburten kommen gar nicht selten vor. Nur dass wenig darüber gesprochen wird. Das kann ein traumatisches Erlebnis sein.

Geburt geht manchmal auch einher mit Tod

Und schließlich kann die Geburt auch mit Sterben einher gehen. Sei es, dass es die Mutter nicht überlebt oder das Kind, oder beide. In früheren Jahrhunderten war der Tod, der mit einer Geburt einherging, eine häufige Todesursache.

J.S. Bach, Sinfonia Nr. 8 f-moll, BWV 795

Die Geburt ist eine fragile, eine zerbrechliche Situation.

Leben gibt es ja eigentlich immer nur auf der Grenze. Aber besonders im Vorgang der Geburt wird deutlich: Leben und Tod liegen oft dicht beieinander. Viel ließe sich dazu noch sagen.

Neues Leben ein Wunder

Aber das Wunderbare dieses Vorgangs soll doch zum Schluss noch   einmal herausgestrichen werden:

Wie hier neues Leben die Welt erblickt – es bleibt ein Wunder!

Wie mit jedem neuen Menschen ein ganz unverwechselbares Individuum diese Welt besucht – was kann es Größeres geben?

Jeder Mensch - ein Unikat

Wir sind alle Unikate! Uns alle gibt’s nur einmal! Und in jedem neuen Wesen steckt ein großes Entwicklungspotential - selbst da, wo die Startbedingungen vielleicht schwierig sind.

Jeder neue Mensch ein Hoffnungszeichen

Und schließlich: Für mich ist die Geburt eines neuen Menschen das Hoffnungszeichen schlechthin für diese Welt.

Wir Christen feiern das an jedem Weihnachtsfest: die Geburt eines Menschen als Hoffnungszeichen für die ganze Welt. Ich behaupte: in jedem neuen Menschen steckt diese Kraft der Hoffnung.

Diese belastende, schwierige Welt und wir alle in ihr brauchen diese Kraft, die uns in den Neugeborenen entgegenblickt. Nehmen wir sie ganz tief in uns auf!

Johann Sebastian Bach. „Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren“ BWV 137, No.1: Coro 

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