Sei ein Mensch
Unsere Abschlussfahrt vor dem Abitur ging nach Israel - in den Osterferien. Zwei Wochen Arbeit im Kibbuz, eine Woche Rundreise, gefördert von der Bundesregierung, deshalb bezahlbar. Der Kibbuz lag am See Genezareth, viele junge Freiwillige aus aller Welt kamen hier zusammen.
Arbeit von 6 - 11 Uhr, dann Freizeit
Arbeitseinsatz war von 6 bis 11 Uhr, danach war Freizeit angesagt. Es fühlte sich wie Urlaub an. Wir ernteten Pampelmusen und Bananen, arbeiteten in einer kleinen Herstellung für Beach Ball-Schläger, kümmerten uns um die Hühner oder waren eingeteilt zum Küchendienst. Den mochten alle am wenigsten, ließ sich aber nicht vermeiden.
Wir hatten mal wieder lange gefeiert, wenig geschlafen und dann musste ausgerechnet ich zum Küchendienst. Die Dämpfe der Spülmaschine, die Gerüche – der Kreislauf machte nicht mit, ich kippte um. Eine ältere Frau, Mira, kümmerte sich um mich, schloss die Tür zu einem kleinen Nebenraum auf und sagte, ich solle mich auf die Couch legen.
Die Geschichte von Mira
Sie setzte sich neben mich. Sie trug ein kurzärmeliges Hemd. Die Nummer auf ihrem Arm war gut zu erkennen. Dann begann sie zu sprechen – leise, stockend, auf Deutsch. Sie habe ihren Mann, ihre Kinder und ihre Eltern in Auschwitz verloren. Sie sagte: Das ist das erste Mal, dass ich wieder Deutsch spreche.
Ich wusste sofort: Alles, was ich jetzt sage, kann falsch sein, nicht den richtigen Ton treffen. Ich war von der Situation überwältigt. Das Denken setzte aus. Plötzlich flossen meine Tränen - in Sturzbächen. Als ob sich eine Schleuse geöffnet hätte. Es hörte nicht mehr auf, es wurde schlimmer. Die Gedanken ertranken in einem Meer von Tränen.
Mira, die Jüdin, tröstet ein Mädchen, das aus dem Land kommt, in dem ihre Familie umgebracht worden ist
Die Jüdin Mira ergriff ruhig meine Hand und hielt sie fest. Mit der anderen Hand tätschelte sie meinen Arm. Sie tröstete mich – die Deutsche, deren Vorfahren zu den Nazitätern gehört haben können. Es war die vielleicht wichtigste Lektion in meinen Leben. „Sei ein Mensch“ könnte darüberstehen. Nie wieder habe ich so viele Tränen vergossen wie an diesem Tag.