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Aus der Nähe menschlicher
Foto: Can Wagener

Aus der Nähe menschlicher

Jens Haupt
Ein Beitrag von Jens Haupt, Evangelischer Pfarrer, Kassel
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Die Weihnachtsfeiertage sind vorbei. Manche atmen auf, manche seufzen leise. Kinder, Eltern, Großeltern und Verwandte haben sich gesehen. Der Baum nadelt, wenn es überhaupt in diesem Jahr einen Baum gab. Reste vom Festessen sind eingefroren oder endlich aufgegessen. Ruhe, die Beine hochlegen - einfach mal Pause machen an diesem Sonntag zwischen den Jahren.

Welche Begegnungen gab es dieses Jahr?

Meine Gedanken wandern. Welchen Menschen bin ich in diesem Jahr begegnet? Familie, Freundinnen und Freunden, natürlich. Oft viel zu kurz. Zu selten. Es sind neue Menschen dazugekommen. Flüchtige Bekanntschaften, die ich irgendwo getroffen habe, zufällig, durch Arbeitskontakte oder anderswo. Einige könnten Freunde werden. Andere werde ich im neuen Jahr vergessen haben.

Begegnungen machen neugierig

Mein Alltag ist nach der Pandemie längst wieder voller Begegnungen mit den unterschiedlichsten Menschen, denen ich auf der Straße und in den Geschäften täglich über den Weg laufe. Die meisten nehme ich nur beiläufig wahr. Bei manchen schaue ich zweimal hin, sie machen mich neugierig. Bei anderen bin ich irritiert. Der etwas finster dreinblickende Mann in Lederjacke, mit Tattoos vom Hals bis ins Gesicht, steht auf und bietet mir in der vollen S-Bahn seinen Sitzplatz an. Mit einem breiten Grinsen. Mein erster Eindruck, meine Vorurteile haben mich reingelegt.

Begegnungen in der Stadt

Bei den Begegnungen in der Tram, der S-Bahn und im Bus müssen wir miteinander auskommen. Aussteigen und Einsteigen geht nur, wenn wir zusammenarbeiten. Die einen rein, die anderen aber erst raus. Wir verständigen uns mit Blicken, Handzeichen oder, wenn es nicht anders zu machen ist, mit Worten und tatkräftiger Hilfe.

Und wenn ich eingestiegen bin, die kurze Frage, ob der Sitz frei ist. Der Rucksack, der draufsteht, wird weggeräumt: Na klar, bitte schön. Danke! Und dazu ein Lächeln auf den Lippen.

Kleine Gespräche kommen auf, wenn ich mit vielen anderen an der Kasse warten muss. Hinter mir die Dame wird ungehalten. „Der ist doch total unfähig da vorne.“ Ich drehe mich um: „Vielleicht überfordert. Aber immerhin freundlich.“

Im Getriebe einer Stadt sind es so viele alltägliche Begegnungen. Mit einer unzähligen Menge Menschen teilen wir uns den gemeinsamen Raum der Straße, in der Fußgängerzone und in den Geschäften. Menschen wie ich. Und sie sind in vielem anders, sie sehen anders aus, bewegen sich anders, verhalten sich anders.    

Begegnungen auf dem Land

Meine Gedanken wandern weiter zurück. Zu meinem Leben auf dem Dorf. Tagsüber gab es wenige Begegnungen. Mal am Bankschalter, mal im Lebensmittelgeschäft und abends beim Milchholen. Lange ist es her. Der Kirchenchor und die Dorfkneipe waren Treffpunkte, und fast immer war ich einer der Jüngsten. Die sogenannten Dritten Orte, jenseits von Wohnung und Arbeitsplatz, sind allmählich weniger geworden, vor allem auf dem Land. Das nächste Schwimmbad ist nur mit dem Auto erreichbar, die Bank, der Laden, die Post haben sich aus dem ländlichen Raum zurückgezogen. Alltägliche Begegnungsorte verschwinden.

Einander erleben

Das beklagt auch der Soziologe Rainald Manthe. In seinem Buch „Demokratie fehlt Begegnung“ schreibt Manthe über Alltagsorte des sozialen Zusammenhalts. Er sagt: „Alltag verbindet.“  Da stimme ich ihm zu. Das gelingt aber nur, wenn wir „einander erleben, ohne dass es anstrengend wird“ (S.55). Dafür braucht es Vertrauen. Vertrauen entsteht schon in der kleinen, belanglosen, alltäglichen Begegnung miteinander. Ich vertraue darauf, dass sich schon alle an die allgemeinen Regeln einigermaßen halten werden. Ich muss nicht ständig Angst haben, dass wir aneinandergeraten. Ich verlasse mich täglich in meiner Umgebung, in unserem Gemeinwesen darauf, dass „wir einander erleben, ohne dass es anstrengend wird“.

Miteinander auskommen

Rainald Manthe schreibt: „Aus der Nähe sind Menschen oft menschlicher…“ (S.127) So habe ich es in meiner Zeit als Pendler in der Bahn erfahren. Ich erinnere mich an manches herausfordernde Gespräch unter den Mitfahrenden. Weil wir uns aber immer wieder begegnet sind und miteinander auskommen mussten, wurde das Denken übereinander milder, eingefahrene Meinungen veränderten sich allmählich. Aus der Nähe sind Menschen oft menschlicher. Das stimmt. Deshalb ist es so wichtig, dass wir uns begegnen und austauschen. Ich blicke zurück ins vergehende Jahr, auf unsere gemeinsame Menschlichkeit, auf unser Menschsein, das wir teilen. Trotz allem, was uns voneinander unterscheidet.

Ein göttlicher Blick auf den Menschen

Was macht uns Menschen aus, was verbindet uns? Das fragt der 8.Psalm: „Was ist der Mensch, dass du an ihn denkst, des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst? Du hast ihn wenig geringer gemacht als Gott, mit Ehre und Hoheit hast du ihn gekrönt.“ Das sind starke Worte aus dem ersten Testament (Ps.8,5-6). Wenig geringer als Gott. In der Bibel findet sich ein anderer Blick auf uns Menschen. Ein göttlicher Blick, der keine Unterschiede macht.

Verständnis für andere

Unser Blick aufeinander wird durch Begegnung menschlicher. Wie soll ich Verständnis für ein Leben in Armut entwickeln, wenn ich es im Alltag nicht sehe? Wie soll ich unterschiedliche Lebenskulturen als bereichernd erleben, wenn ich sie nicht kennenlerne? Solange ich mich täglich in meinem Wohnviertel und meinem direkten Umfeld bewege, begegne ich zunehmend Menschen, die so sind wie ich. Das macht es leicht und ist oft angenehm. Die Begegnungsorte im Alltag, unsere Straßen und Plätze, Cafés und Kneipen, Büros und Schulen – das alles sind Orte, die Menschen gemeinsam täglich nutzen. Hier mischt sich Gesellschaft, hier trifft man aufeinander. Manche Begegnungen sind nicht angenehm, manches kurze Zusammentreffen irritiert. Jemand, der mich auf der Straße anrempelt, sich nicht entschuldigt, jemand, die laut telefoniert. Es gibt auch die nervigen, unangenehmen Begegnungen. Und trotzdem sind wir alle Teil des großen Miteinanders Mensch. Untereinander unterscheiden wir uns nur in 1 Prozent unserer Erbinformationen. Genetisch sind wir zu 99 Prozent gleich. Aus der Nähe sind Menschen oft menschlicher.

Der Demokratiezug stärkt das Miteinander

Für diese Nähe braucht es „Dritte Orte“. In Kassel ist der „Demokratiezug“ ein dritter Ort. Die Straßenbahn der Linie 1 fährt immer dienstags mit einem Beiwagen. Unter dem Motto: „Miteinander statt übereinander reden“ können die Fahrgäste über das sprechen, was sie gerade bewegt. Man braucht nur einen gültigen Fahrschein. Der „Demokratiezug“ will den respektvollen Meinungsaustausch im öffentlichen Raum stärken. Er will Menschen ermutigen, ein offen darüber zu reden, was im Alltäglichen stört, vielleicht auch ängstigt, uns begeistert oder auch herausfordert. Wer im Demokratiezug Platz nimmt, steht ein für Meinungsvielfalt und Austausch. 

Auch viele Kirchen sind schon immer „Dritte Orte“. Sie sind für Begegnungen gebaut. Massive, traditionsreiche Gebäude, in denen nicht nur gebetet wird, es finden dort Feste statt, Selbsthilfegruppen nutzen sie, sie bieten Seelsorge und Krisenhilfe, Obdach, Solidarität und Hilfsbereitschaft. Kirchen öffnen sich für verschiedenste Menschen.

Meine Gedanken wandern wieder zu den vielen Begegnungen im vergehenden Jahr. Ich bin dankbar für jeden freundlichen, ehrlichen und bewegenden Austausch. Bin dankbar für gute Gedanken und Nähe. Ich bin gespannt auf das neue Jahr. Gespannt auf die Momente, in denen ich andere Menschen wirklich sehe und selbst gesehen werde.

Quelle: Rainald Manthe, Demokratie fehlt Begegnung - Über Alltagsorte des sozialen Zusammenhalts, 2024,

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