
Weltflucht und Selbstfürsorge
Seit einiger Zeit guck ich kaum noch Nachrichten. Auch Zeitung les‘ ich nicht mehr so regelmäßig wie früher. Früher war das ziemlich zentral für mich: Ich hab immer wissen wollen, was gerade wo auf der Welt abgeht und warum. Ich will politisch denken und handeln – gerade als Christin. Denn: Ich will, dass Menschen gut, sozial und solidarisch miteinander leben können auf dieser Welt.
Da saß ich im Wohnzimmer und hab‘ geheult
Das will ich immer noch. Aber: In den letzten Jahren hat sich etwas an meiner Einstellung zu den Nachrichten geändert. Ich hab gemerkt: Nachrichten tun mir manchmal überhaupt nicht gut, ziehen mich regelrecht runter. Angefangen hat das in der Coronazeit, als jeden Morgen zuallererst die neuesten Todeszahlen im Radio kamen. Das hat mich total fertig gemacht: diese kalten Zahlen, obwohl es um Menschenleben ging. Als dann die Bilder von hunderten Coronatoten im Fernsehen kamen und die Meldung, dass man nicht wisse, wohin mit den Leichen: da saß ich im Wohnzimmer und hab geheult.
Eine Pause vom Tohuwabohu der Welt
Klar: Ich war durch die ganze Corona-Situation emotional durchlässiger und empfindlicher. Schlechte Nachrichten gab es ja schon immer. Und auch, wenn die mich nie wirklich kalt gelassen haben: zum Weinen haben sie mich noch nie gebracht. Deshalb hab ich damals mit einer Verhaltenstherapeutin darüber gesprochen. Sie hat mir empfohlen: Lass die Nachrichten doch einfach mal eine Zeitlang weg – und beobachte, wie es dir damit geht. Das hab ich gemacht – und tatsächlich gemerkt: Wenn ich auf die Nachrichten verzichte, bin ich mit meiner Aufmerksamkeit und meiner Energie wieder bei mir und bei meiner Familie – statt „da draußen“, in der Welt, die die Nachrichten mir zeigen. Das hat mir total gut getan. Es war eine Art Pause von dem Tohuwabohu der Welt. Dadurch hab ich ein bisschen aufatmen, Kraft sammeln und mich auch wieder besser um meine Familie kümmern können.
Musik
Das ist keine Weltflucht, sondern Selbstfürsorge
Eine Pause von den Nachrichten: Das klingt ja schon ein bisschen wie Weltflucht. Als würde mich der ganze Mist da draußen nichts angehen, als wär mir alles egal. Aber: So ist das nicht. Im Gegenteil. Ich glaube, mir geht der „ganze Mist da draußen“ viel zu oft viel zu nah. Ich lasse ganz viel von dem, was ich wahrnehme, sofort an mich ran, ohne Filter. Hochsensibel nennt man das: wenn die Dinge um einen rum quasi sofort ans Herz (und an die Nieren) gehen. Einerseits bin ich dadurch total empathisch und spüre schnell, was Menschen brauchen. Andererseits merke ich manchmal nicht mehr, was ich eigentlich brauche. Ich kann mich noch so anstrengen: Das lässt sich nicht abschalten, das gehört zu mir. Was ich abschalten kann, das sind die Nachrichten. So kann ich filtern, wann ich mich welchen Reizen aussetze – und wann ich davon mal eine Pause mache. Das ist keine Weltflucht, das ist Selbstfürsorge, eigentlich schon Selbstschutz.
Auch Jesus schützt sich, indem er sich Auszeiten nimmt
Was mich beeindruckt: Schon in der Bibel steht überraschend oft: Jesus hat das auch gemacht! Mit einem Unterschied: Jesus konnte nicht einfach den Fernseher mit den Nachrichten an- und abschalten. Stattdessen sind die Kranken, Bedürftigen, Leidenden direkt zu ihm gekommen. Es hatte sich rumgesprochen: Dieser Jesus kann helfen, kann heilen, ist immer für alle da. Umso notwendiger ist es für Jesus gewesen, eben nicht immer für alle da zu sein und sich ab und zu einfach mal rauszunehmen. „Er zog sich zurück an einen einsamen Ort“, heißt es zum Beispiel im Lukasevangelium (Kapitel 5, Vers 16). Jesus schützt sich, sorgt für sich, indem er sich immer mal wieder eine Auszeit nimmt. Wenn das Elend um ihn herum zu viel wird, braucht er eine Pause von der Welt. Wer weiß, vielleicht war er ja auch hochsensibel. Aber selbst wenn nicht: Aufatmen, Kraft tanken, das ist immer mal wieder notwendig, für jede und jeden. In der Bibel steht: Jesus zieht sich zurück, „um zu beten“. Das bedeutet: In seiner Auszeit dockt er sich wieder an: an seine Kraftquelle. Er kehrt sich nach innen und verbringt Zeit mit sich - und mit Gott, den er Vater nennt, ohne Ablenkung von außen.
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Gott hat sich durch Jesus komplett auf diese Welt eingelassen
Selbst Jesus hat sich also nicht andauernd dem Geschehen in der Welt ausgesetzt. Das ermutigt mich: Ich darf mich rausziehen, muss es sogar manchmal – und bin deswegen weder ein schlechter Mensch noch eine schlechte Christin.
Als Christin glaub ich: In Jesus ist Gott Mensch geworden. Das feiere ich mit vielen anderen an Weihnachten. Gottes Botschaft an Weihnachten ist: Ich will einer von euch sein, ich will ganz nah bei euch Menschen sein, ohne Distanz. Also wird Gott einer von uns, ein Mensch - und kommt als Jesuskind zur Welt. Von wegen Weltflucht – das ist schon eher Weltsucht: Dieses unbändige Bedürfnis, sich komplett auf diese Welt einzulassen, ohne Filter, ohne Abstand.
Mich rausziehen und mit meiner inneren Kraftquelle verbinden
Ich denke: Politisch sein und als Christin Verantwortung übernehmen in dieser Welt: Das heißt einerseits: mich auf die Welt einlassen, bedingungslos und vielleicht sogar schutzlos, wie das Jesuskind in der Krippe. Andererseits bedeutet es aber auch: Verantwortung für mich selbst übernehmen, mit meinen Kräften haushalten, für mich sorgen und mich rausziehen, wenn es zu viel wird. Mich mit meiner inneren Kraftquelle verbinden, beten.
Sei lieber eine Schale als ein Kanal
Einer, der das sehr gut verstanden hat, war Bernhard von Clairvaux. Er war ein leidenschaftlicher, kluger und in gewisser Weise umtriebiger Mönch, der im 11. Jahrhundert nach Christus gelebt und den Zisterzienserorden berühmt gemacht hat. Das Kloster Eberbach im Rheingau zum Beispiel hat er gegründet. Bernhard von Clairvaux hat in einem Brief an einen seiner Schüler mal etwas geschrieben, was mir sehr gut gefällt, er schreibt nämlich: „Wenn du vernünftig bist, sei lieber eine Schale als ein Kanal. Ein Kanal empfängt und gibt fast gleichzeitig weiter. Die Schale hingegen wartet, bis sie gefüllt ist und gibt dann das, was bei ihr überfließt, ohne eigenen Schaden weiter. (…) Du tue das Gleiche! Zuerst anfüllen, und dann ausgießen.“ Zum Schluss stellt Bernhard eine wichtige Frage, die lautet: „Wenn du nämlich mit dir selber schlecht umgehst, wem bist du dann gut?“ Die Antwort darauf ist so klar, die muss er gar nicht hinschreiben.
Wem bist du gut, wenn du mit dir schlecht umgehst?
„Wenn du mit dir selber schlecht umgehst, wem bist du dann gut?“ Ich glaube, diese Frage sollte ich mir wirklich mal öfter stellen. Niemandem nutzt es, wenn ich ausbrenne. Ich brauch mich nicht schlecht zu fühlen, wenn ich für mich sorge, mich zurückziehe und mal keine Nachrichten schaue. Dann weiß ich eben eine Zeitlang mal nicht, was aktuell gerade auf dieser Welt abgeht und kann politisch mal nicht mitreden. Ich wende mich damit nicht gegen diese Welt, das ist keine Weltflucht - im Gegenteil. Eben weil ich so gerne auf dieser Welt bin und für Menschen da sein will, muss ich manchmal ganz aktiv etwas für mich tun, meine innere Schale mit Energie auffüllen. Damit ich, nach einer gewissen Zeit, auch wieder in Hülle und Fülle „ausgießen“ kann. Wie gut, dass sogar Jesus mir das schon vorgelebt hat!