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Adventskalender: Jeden Tag ein Stück Geduld
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Adventskalender: Jeden Tag ein Stück Geduld

Dr. Annegreth Schilling
Ein Beitrag von Dr. Annegreth Schilling, Evangelische Pfarrerin, Frankfurt
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Endlich ist er angekommen: mein Adventskalender aus Kanada. Die kleinen Päckchen hängen an einer Schnur, mal länger, mal kürzer, jedes einzeln in rot-weiß karierte Säckchen verpackt. Meine kanadische Freundin und mich verbindet seit 20 Jahren ein Ritual: Jedes Jahr im Wechsel schicken wir uns diesen Adventskalender hin und her. Dieses Jahr hat sie ihn befüllt und mir geschickt.

Der Adventskalender kam pünktlich

Die Post dauert manchmal ziemlich lang, dieses Jahr ist er zum Glück rechtzeitig angekommen. Und nun hängt er in meiner Küche. Das erste Säckchen habe ich gleich heute morgen aufgemacht: Ein Riegel Coffee-Crisp war drin, eine meiner Lieblings-Süßigkeiten.

Ich versuche herauszufinden, was wohl in dem Säckchen mit der 24 steckt. Es fühlt sich hart an. Ein Stück gute Seife? Oder etwas Schönes aus Holz?

Jedes Jahr aufs Neue warten lernen

Ich bin neugierig und muss mich bremsen, am liebsten würde ich sofort nachsehen. Aber beim Adventskalender geht es ja gerade darum, sich zu gedulden. Und diese kleine Geduldsübung will ich mir nicht nehmen. Ich will wieder warten lernen. Jedes Jahr aufs Neue.

Geduldig sein mit sich und anderen, fällt oft schwer

Ich gehöre zu den Menschen, denen es manchmal an Geduld fehlt. Ich mag es, wenn sich die Dinge zügig entwickeln. Wenn ich bei einem Kollegen nicht dreimal nachfragen muss, ob er bei einem Projekt mitmachen möchte. Und ich liebe es, in Gesprächen schnell auf den Punkt zu kommen. Ich würde nicht sagen, dass ich ein ungeduldiger Mensch bin. Aber sagen wir es so: Geduld haben – mit mir selbst und mit anderen – dafür brauche ich Zeit.

Im Dezember erinnert mich der rot-karierte Adventskalender meiner Freundin daran, mich in Geduld zu üben. Einen Monat lang. Jeden Tag ein Stück mehr.

Aber warum ist Geduld eigentlich wichtig? Was ist der Gewinn davon „geduldig“ zu sein?

Musik

Was ist der Gewinn davon „geduldig“ zu sein?

Heute am 1. Dezember habe ich das erste Säckchen aus meinem Adventskalender geöffnet. Geduldig warte ich ab jetzt darauf, ein Päckchen nach dem anderen zu öffnen. Bis Weihnachten. Für jemanden, die wie ich eher ungeduldig ist, eine echte Herausforderung. Ich nehme diese Herausforderung in der Adventszeit gern an. Die leckeren Süßigkeiten im Adventskalender sind dabei nur der Anlass. Mit ihnen nutze ich die Adventszeit – auch in diesem Jahr – um Geduld neu zu lernen. Jeden Morgen nur ein kleines Stück Schokolade. Sich darauf freuen, es genießen. Und dann: abwarten bis zum nächsten Tag.

Jeden Tag ein bisschen mehr dem Geheimnis von Weihnachten auf die Spur kommen

Stück für Stück, in großer Geduld, dem Geheimnis von Weihnachten auf die Spur kommen. Das geht nicht nur mit dem Adventskalender. Auch in vielen Adventsliedern wird es besungen. Da heißt es: „Seht, die gute Zeit ist nah“. Oder „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit, euer Herz zum Tempel zubereit.“ (Evangelisches Gesangbuch Nr. 1, Strophe 4)

Was etwas altertümlich klingt, meint eigentlich: Nehmt Euch Zeit und bereitet Euch in eurem Herzen in aller Ruhe auf das Weihnachtsfest vor. 4 Wochen Advent und sich nach und nach auf die „gute Zeit“ einstimmen.

Am 1. Advent muss noch nicht alles perfekt sein

Das heißt auch: Es muss jetzt noch nicht alles vorbereitet sein. Ich erinnere mich an letztes Jahr: Da habe ich es einfach nicht geschafft pünktlich zum 1. Advent einen Adventskranz zu besorgen. Innerlich gingen zuerst die Stresslampen an: Denn es sollte doch auch schon am 1. Advent gemütlich und adventlich in meiner Wohnung aussehen. Und dann bin ich kurz ein Stück zurückgetreten, habe mich selbst beobachtet und mir gesagt: Wozu der Stress? Es ist der 1. Advent. Da muss noch nicht alles perfekt sein. Hab‘ Geduld!

Also habe ich kurzer Hand einen Kerzenstumpen genommen und ihn angezündet. Ich habe einen Tee gekocht und eine Orange geschält und mir eine schöne, adventliche Musik angemacht. Auch ohne Adventskranz war das ein schöner 1. Advent. Und ich habe dadurch begriffen: Advent bedeutet warten auf das, was noch nicht da ist. Geduld einüben, mit mir selbst und mit anderen.

Ungeduld kann in manchen Fällen hilfreich sein

Damit sage ich nicht, dass Ungeduld grundsätzlich verkehrt ist. Sie kann sogar in manchen Fällen sehr hilfreich sein. Ich denke an den vollen Mülleimer an meiner Straßenecke. Ich ärgere mich oft darüber, wieviele coffee-to-go Becher da jeden Morgen drin landen. Diesen Müllhaufen will ich nicht geduldig ertragen. Das muss doch auch anders gehen…

Und schon merke ich, wie mein Geduldsfaden reißen will, mein Stresspegel steigt. Ich werde deutlicher und entschiedener. Dabei hatte ich mir vorgenommen, im Advent gelassener und geduldiger zu werden. Geht nur das eine? Oder nur das andere? Oder geht auch beides zusammen – die Geduld mit der Ungeduld?

Musik

Ich nehme mir für den Advent vor geduldiger zu werden. Ich will mir mehr Zeit nehmen, mich nicht stressen. Im Kleinen krieg ich das hin, denke ich. Da hilft mir der Adventskalender, den ich jeden Morgen aufmache, und die Kerzen am Adventskranz.

Es gibt viele Ereignisse, die uns beunruhigen können und unsere Geduld an ihre Grenzen bringt

Doch wenn ich an die Weltlage denke, gebe ich zu: Da fällt es mir schwer, geduldig zu bleiben. Noch eine weitere Amtsperiode von Donald Trump, die wachsende Anzahl an Unwettern und Überschwemmungen wie kürzlich in Valencia, der Krieg in der Ukraine, der in diesem Winter in das dritte Jahr geht… Es gibt viele Ereignisse, die mich beunruhigen und meine Geduld an ihre Grenzen bringen.

In der Bibel ist die Geduld eng an Hoffnung und Zuversicht gebunden

In der Bibel ist die Geduld eng an Hoffnung und Zuversicht gebunden. Im Neuen Testament werden wir ermutigt, nicht aufzugeben. Da heißt es: „Werft also eure Zuversicht nicht weg! (…) Was ihr jetzt braucht, ist Geduld.“(Hebräer 10, 35f.) Ich höre dieses Bibelwort wie eine Anleitung für die nächsten Wochen: Geduld üben und trotz allem die Zuversicht behalten. Denn die gute Zeit wird kommen.

Die Zuversicht behalten, trotz vieler Krisen, das gilt für mich nicht nur im Advent. Es ist für mich der Kern meines Glaubens. Ich möchte zuversichtlich auf das blicken, was positiv ist und gelingt.

In dem Sportverein in meiner Nähe hat es sich zum Beispiel durchgesetzt, dass keine Kaffeebecher aus Pappe mehr ausgeteilt werden, sondern dass alle ihren eigenen Trinkbecher mitbringen. Dadurch gibt es viel weniger Müll auf dem Platz. Mich macht das zuversichtlich: Dinge, die immer so waren, können sich auch verändern. Stück für Stück.

Sich einen stabilen Geduldsfaden weben

Dafür brauche ich einen langen Geduldsfaden. Offen gesagt: der war bei mir an manchen Tagen in diesem Jahr sehr dünn und ist schnell gerissen. Jetzt im Advent möchte ich einen stabilen Geduldsfaden weben. Ich stelle mir diesen Geduldsfaden richtig vor: Er besteht aus vielen einzelnen Fäden und hat in der Mitte einen starken Kern. Dieser Kern ist reißfest. Ich nenne ihn Zuversicht. Und dann webe ich noch viele weitere Fäden drum herum:

Ein Faden heißt zuhören, ein nächster heißt: den anderen ausreden lassen. Ein weiterer Faden heißt: ein Auge zudrücken. Diese Fäden verbinden sich miteinander. So entsteht mein adventlicher Geduldsfaden. Er fühlt sich stabil und zugleich weich an. Und wenn einer der Fäden mal reißt, dann gibt es noch die anderen, die meine Geduld zusammenhalten.

Auch die Ungeduld ist ein Teil des Geduldsfadens

Und dann gibt es noch einen Faden, der mitten hineingewoben ist. Er heißt „Ungeduld“. Ich habe es akzeptiert: Auch die Ungeduld gehört zu mir, sie ist Teil von meinem Geduldsfaden. Und ich merke: Manchmal ist meine Ungeduld auch ein Gewinn, weil ich nicht einfach alles hinnehme, sondern nachfrage und Dinge dadurch verändern kann. Bei den Kaffeebechern im Sportverein hat zumindest schon mal das geklappt.

Es ist wichtig, die Zuversicht zu behalten, dass sich Konflikte gut lösen lassen

Ich möchte die Adventszeit in diesem Jahr nutzen um Geduld Stück für Stück einzuüben. Ich will meinen Geduldsfaden stärken und bei Ärger zu Hause oder bei der Arbeit nicht gleich die Nerven verlieren. Ich möchte die Zuversicht behalten, dass sich Konflikte gut lösen lassen.

Ich glaube, es tut unserem Zusammenleben gut, wenn wir geduldiger und nachsichtiger miteinander umgehen. Wenn wir einander zuhören, uns ausreden lassen und auch mal ein Auge zudrücken. Für mich hat das damit zu tun, menschlicher zu werden. Und das ist ja das, worauf wir im Advent warten: dass Gott Mensch wird.

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