Vom Tod mitten im Leben
Jetzt im November und besonders heute am Totensonntag muss ich an einen Strand in Spanien denken. „Strand der Toten“, „Playa de los muertos“ wird er genannt. In den Herbstferien war ich dort mit meinen Töchtern. Wir haben die Familie meines Mannes in Andalusien besucht - zum ersten Mal außerhalb des Hochsommers, sodass wir auch mal Orte und Sehenswürdigkeiten erkunden konnten, für die es sonst immer viel zu heiß ist. Aber ein Strandbesuch musste auch sein - nicht zum Baden, aber zum Spazierengehen. Meine Schwägerin hatte einen Tipp für uns: „Ihr müsst euch unbedingt mal die Playa de los muertos anschauen!“ Hm, ein Stand der Toten? Das klingt erst einmal nicht so einladend, ein bisschen unheimlich, dachte ich mir. Aber gut, die Leute vor Ort werden es wissen.
Ein Ort, an dem man zur Ruhe kommen kann
Wir sind also hin. Es ist ein ganz abgelegener Strand, ohne Gastronomie oder anderen Service. Man muss vom Parkplatz aus erst einmal 500 m einen steinigen Weg steil bergab laufen - hinterher natürlich auch wieder hoch. Aber Schritt für Schritt kommt man in eine wunderschöne Landschaft und dem Strand näher. Tatsächlich ist der Strand großartig: einsam, feine Kiesel, klares Wasser trotz zu dieser Jahreszeit bewegter See. Ein Ort, an dem man zur Ruhe kommen kann, ein Ort der wirklich einladend ist. Und ich habe viel über den Namen des Strands nachgedacht. Strand der Toten: Er heißt so, weil an diesem Stück Strand durch die Meeresströmung in vergangenen Zeiten tatsächlich immer wieder Tote, nämlich Schiffbrüchige angeschwemmt wurden.
"Es war ein Kommen und Gehen"
Was mir aufgefallen ist: bei den Einheimischen, den Menschen vor Ort gibt es offenbar nicht dieses befremdliche und unheimliche Gefühl, das ich empfunden habe. Es wirkt so, als ob Tod und Leben und damit auch Tote und Lebende völlig selbstverständlich zusammengehören.
Das habe ich auch schon vor einigen Jahren erlebt, als meine Schwiegermutter gestorben ist. Für einen Tag wurde sie aufgebahrt, und das ganze Dorf ist zusammengekommen und hat sich um sie versammelt. Ich habe wirklich gestaunt: Ja, alle waren natürlich auch traurig, aber trotzdem hat man in Gegenwart der Toten auch gelacht, erzählt und Kleinigkeiten gegessen. Es war ein Kommen und Gehen, manche kamen nur kurz in einer Pause von der Arbeit, manche blieben länger, andere kamen mehrmals, aber bemerkenswert war: Keiner ist gegangen, ohne sie zu begrüßen oder sich von ihr zu verabschieden. Die Leute sind zu ihr, haben sie berührt oder geküsst, ihr nochmal etwas gesagt oder in den Sarg gelegt. Und erst am Nachmittag, kurz vor der Beisetzung war dann nur noch die engste Familie um sie versammelt, und auch wir haben Abschied genommen.
Musik
Vieles erinnert an die Vergänglichkeit
Wir sind fast am Ende des Monats November angekommen - ein Monat, der auch durch das Thema Tod geprägt ist, besonders heute am Toten- oder Ewigkeitssonntag. Jetzt im November gibt es viele Anlässe, die einen auf das Thema Tod stoßen: Viele kirchliche und nichtkirchliche Gedenk- und Feiertage wie Allerheiligen, Allerseelen, Volkstrauertag und eben der Totensonntag liegen im November, und die Menschen nutzen sie, gehen an die Gräber ihrer Lieben und denken an sie. Auch ich denke an meine Schwiegermutter, die in Spanien verstorben ist, und an all die lieben Verstorbenen aus meiner Familie oder dem Freundeskreis, wie meine Großeltern, mein Onkel, der mir wie ein Bruder war. Im November wird die Natur grau und vieles darin erinnert an die Vergänglichkeit: Die Bäume verlieren ihre letzten bunten Blätter, die Natur kommt zur Ruhe, der Himmel ist oft trist, regnerisch oder nebelverhangen.
Die Zeit schreitet unaufhaltsam voran
Man könnte trübsinnig werden, viele empfinden das so, und ja, Menschen, die an einer Depression leiden, denen fällt es im November oft besonders schwer, die Dunkelheit auszuhalten.
Am Thema Tod kommt man im November nicht wirklich vorbei. Ich denke auch an die Menschen und Orte, die Teil meiner Vergangenheit waren und heute nicht mehr sind, schon lange nicht mehr sind und mir damit vor Augen führen, wie alt ich selbst schon geworden bin, wie unaufhaltsam die Zeit voranschreitet. Sie zeigen mir meine eigene Vergänglichkeit. Wenn ich heute durch den kleinen Ort an der Mittelmosel fahre, in dem ich vor 40 Jahren aufgewachsen bin, dann kenne ich kaum jemanden mehr. Und als ich im Frühjahr anlässlich einer Familienfeier den örtlichen Friedhof besucht habe, habe ich ganz schön viele Namen wiedererkannt.
An alle diese Abschiede muss ich heute denken
Den von Tante Heddi zum Beispiel, sie war nicht meine Tante, aber so haben wir sie immer genannt. Sie hatte einen kleinen Krämerladen gegenüber dem Haus, in dem wir mit unserer Familie damals gewohnt haben - sie ist schon seit über 30 Jahren tot. Den Krämerladen gibt es nicht mehr. Unser Haus von damals gehört heute jemand anderem. Genauso wie das Haus meiner Großeltern, ein paar Meter weiter. Es ist umgebaut worden und kaum mehr wiederzuerkennen. An alle diese Abschiede in meinem Leben muss ich heute denken und ja, ich empfinde so etwas wie Trauer.
Der Abschied von einem Lebenstraum
Aber Abschied und Trauer kann auch zum Thema werden, wenn niemand stirbt. Menschen trennen sich, verlieren einander aus den Augen, verändern sich, gemeinsame Wege gehen auseinander, Kinder werden groß, gehen aus dem Haus, Beziehungen verändern sich. Und manchmal ist es der Abschied von einem Lebenstraum oder der eigenen Idee davon, wie das Leben gut und sinnvoll ist, der Menschen traurig macht.
Das wunderbare Gedicht "Herbst"
In solchen Momenten tut es mir gut, noch um eine andere Perspektive zu wissen. Eine Perspektive, die alles das nicht überdeckt oder verdrängt, sondern aufnimmt, was an Traurigkeit, Angst und Trostlosigkeit da ist und den Blick behutsam verändert, weitet. Es gibt ein wunderbares Gedicht von Rainer Maria Rilke, das mir diese Perspektive immer wieder gibt - vielleicht kennen Sie es auch? Es heißt Herbst und klingt so:
Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.
Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.
Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.
Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.
Musik
In Gottes Händen aufgehoben und geborgen
„Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält.“ So heißt es bei dem Dichter Rainer Maria Rilke. Das Gedicht berührt mich, weil ich daran glaube und darauf vertraue, dass wir mit allem, was uns ausmacht, in Gottes Händen aufgehoben und geborgen sind: mit unserer ganzen Geschichte, mit den Menschen, die zu uns gehört haben und hier nicht mehr sind, mit unseren Beziehungen, mit dem, was gelingt, aber auch mit dem Scheitern und den unerfüllten Vorstellungen und Ideen.
Am Ende ist da Trost und Leben
Vielleicht hat Rilke bei diesem Gedicht an den Propheten Jesaja gedacht, der diese Trostperspektive dem Volk Israel mit auf den Weg gibt. Es heißt da von Gott: „Ich vergesse dich nicht. Sieh her: Ich habe dich eingezeichnet in meine Hände, …“ (Jesaja 49,15/16)
Ja, ich glaube, dass wir aus Gottes Händen nicht herausfallen. Für mich ist diese Perspektive auf Abschied und Tod ungeheuer wichtig. Diese tröstliche Perspektive: Ich falle nicht ins Nichts, sondern da ist jemand, der mich auffängt. Das heißt nicht, dass Tod und Vergänglichkeit schön oder leicht wären – aber sie bekommen nicht das letzte, schwere Wort. Am Ende ist da Trost und Leben.
Dieses Thema mitten ins Leben geholt
Ich gehöre dem Stiftungsrat der Ökumenischen Hans Voshage-Hospizstiftung an. Vor einigen Wochen haben wir aus Anlass des Jubiläums zum 25jährigen Bestehen der Stiftung ein Benefizkonzert mit dem Landespolizeiorchester Rheinland-Pfalz veranstaltet. Mit ganz wunderbarer Musik haben wir so das Thema Tod und Sterben mitten ins Leben geholt. Die Stiftung hat den Zweck, den Sterbenden unter den Lebenden einen Platz zu geben. Sie tut dies, indem sie die Arbeit in den Hospizen oder auch in Altenheimen fördert und damit Menschen unterstützt und stärkt.
Sterben und Leben gehören zusammen
Hospizbegleiterinnen und -Begleiter haben unbezahlbar wichtige Aufgaben: Sie begleiten Sterbende auf ihrem Weg aus dieser Welt in eine neue Welt, sie schützen die Würde eines Menschen auch über den Tod hinaus, sie halten Sterbenden die Hand, um sie in die Hände Gottes zu übergeben. Das sehe ich in diesem Dienst, der für mich ein starkes Zeichen ist in unsere Gesellschaft hinein. Ich bin allen dankbar, die sich hier engagieren und damit zeigen: Sterben und Leben gehören zusammen.