
Die ausgestreckte Hand Gottes
Es wird langsam hell. Vor rund fünf Minuten war Sonnenaufgang (in Hessen am 17.11. 2024 um 7.40 Uhr). Die Dunkelheit vergeht. Wenn es ganz finster ist, sagen wir manchmal: Man sieht die Hand vor Augen nicht. So finster.
Mal bewusst auf die Hände schauen
Jetzt wird es hell. Wir können die Hand vor Augen sehen. Theoretisch. Praktisch tun wir das eher selten. Wir benutzen unsere Hände einfach, ohne sie vorher anzuschauen. Wir stemmen uns aus dem Bett, reiben den Schlaf aus den Augen und drücken den Schalter der Kaffeemaschine.
Heute ist Sonntag. Nehmen Sie sich ausnahmsweise mal einen Moment Zeit, um auf Ihre Hände zu schauen: Was sehen Sie?
Was Hände alles können
Haut. Zwei Handflächen. Zwei Handrücken. Vier Finger und den Daumen. Äußerlich betrachtet. Dahinter verbirgt sich ein Wunderwerk der Natur. Ein fantastisches Geschenk Gottes. In jeder Hand sind 27 Knochen. Das sind zusammen 54. Ein Viertel aller Knochen im Körper steckt in den Händen. 25% aller Knochen nur in diesen beiden Händen! Dazu kommen Muskeln, Sehnen und Nerven. Was man alles damit machen kann: Zähne putzen und Müsli anrührenden. Jemanden streicheln oder abweisen. Hände können sich an einer Reckstange in die Höhe ziehen oder einen Faden durchs Nadelöhr ziehen. Ich kann meine Hände zum Gebet falten oder zum Kämpfen die Fäuste ballen. Die Hände können bei einer Geburt helfen oder einen Menschen töten. Krass.
Wunderwerk, Gottesgeschenk – und wir können unsere Hände zum Segen oder zum Fluch für andere benutzen.
Geborgen in Gottes Hand
Vor einigen Wochen habe ich angefangen, mehr über meine Hände nachzudenken. Ich hatte eine Hand verletzt und musste sie schonen. Ein klassischer Anlass, die Hand bewusster wahrzunehmen. Seither staune ich wieder mehr darüber, was alles möglich ist. Meistens versuche ich, meine Hände sinnvoll einzusetzen. Aber ich würde meine Hand nicht dafür ins Feuer legen, dass ich in Extremsituationen nicht auch gewalttätig werden würde. Was hindert mich daran? Ein paar Anteile Erziehung, eine paar Anteile Vernunft, auch mein Gewissen trägt dazu bei. Aber vor allem, dass ich mich selbst als einen Menschen empfinde, der in Gottes Hand lebt. Ich erlebe Momente der Geborgenheit, ich habe Lust, aktiv zu sein im Leben. Was mir Halt gibt, ist das symbolische Bild: Ich selbst bin in Gottes Hand gut aufgehoben.
Es gibt ein irisches Segenslied, das man bei einem Abschied singen kann. Dort heißt es im Refrain: „Und bis wir uns wiedersehen, halte Gott dich fest in seiner Hand.“ Und die letzte Strophe geht so: „Bis wir uns mal wiedersehen, hoffe ich, dass Gott dich nicht verlässt; er halte dich in seinen Händen, doch drücke seine Faust dich nie zu fest.“ Irischer Charme, immer mit einem Augenzwinkern.
Schutz und Geborgenheit oder doch Skepsis und Zweifel?
Gottes Hand ist ein Bild für Schutz und Geborgenheit. Aber es gibt auch die andere Seite, die Skepsis und den Zweifel. So sagt ein altes Sprichwort: „Vor Gericht und auf hoher See ist man in Gottes Hand.“ Es stammt aus dem römischen Reich und benennt Situationen, die unvorhersehbar sind. Die Seeleute damals hatten noch keine sichere Navigation und Technik, waren den Elementen weitgehend ausgeliefert. Und vor Gericht galten Stand und Geld oft mehr als Gerechtigkeit. Dann war da wenigstens noch die Hand Gottes – letzte Zuflucht.
Jesus auf dem See Genezareth
Eine meiner Lieblingsgeschichten in der Bibel erzählt von hoher See und von Händen. Sie erzählt vom Kampf zwischen Selbstbewusstsein und Gottvertrauen – Hand in Hand. Sie geht so: Jesus schickt seine Jünger am Abend im Boot über den See Genezareth. Der ist keineswegs ein friedliches Gewässer, die Sturmböen von den Bergen ringsum lassen ihn manchmal hohe Wellen schlagen. So wie in dieser Nacht. Die Jünger meinen, unterwegs Jesus auf dem See zu entdecken und erschrecken. Petrus, der oft ein recht ausgeprägtes Selbstbewusstsein zeigt, möchte Jesus entgegen gehen und sozusagen über das Wasser laufen. Aber dann verlässt ihn aller Mut, und er droht unterzugehen. Da kommt die Hand Jesu auf hoher See ins Spiel: Er streckt sie Petrus entgegen und zieht ihn aus den Wellen.
Streck die Hand aus, schau nach vorne
Ich lese die Geschichte so, dass die Hand Gottes, in diesem Fall als Hand Jesu, Petrus nicht permanent durchs Leben trägt. Aber sie ist da, wo wir Angst haben, unterzugehen. „Rette mich!“ bittet Petrus in der Geschichte. „O Gott“ ist so ein Stoßseufzer in verzweifelten Situationen.
Die Hand Jesu streckt sich Petrus entgegen, sie zieht ihn aus seiner Not. Er ergreift sie. Darum ist diese Szene eine meiner stärksten Mutmachgeschichten: Streck die Hand aus, schau nach vorne und schau, wo du die Hand Gottes entdecken kannst. Sei es in menschlichen Händen, in neuen Ideen und Geistesblitzen. Gott streckt die Hand aus – nach deiner Hand. Ein schönes Bild.
Handgreifliche Hilfe
Ich habe in meinem Leben schon ab und zu handgreifliche Hilfe erfahren und habe sie als Hand Gottes empfunden. Mit Petrus kann ich mich in dieser Geschichte gut identifizieren. Meine Hände habe ich immer dabei. Aber oft reichen ihre Kräfte und Möglichkeiten nicht, um durchs Leben zu kommen. Das gilt nicht nur für mein persönliches Leben, sondern auch im Blick auf größere Horizonte.
Gottes Hand auf hoher See und im täglichen Leben, davon erzählt die Bibel öfters. Natürlich entsteht dann die Frage: Warum greift Gott nicht stärker ein ins Weltgeschehen? Warum lässt er so viele Hände gewähren, die mit Gewehren und Drohnen und Messern und Raketen andere Menschen attackieren?
Die Hände frei machen von Hass und Gewalt
Heute ist ja auch Volkstrauertag, an dem wir die vielen Opfer von Gewalt in aller Welt beklagen und betrauern. Und der Wunsch ist übermächtig: Wenn doch nur Menschen in den Kriegsgebieten anfangen könnten, die Waffen aus der Hand zu legen, als immer nur zu vergelten und an der berüchtigten Eskalationsschraube zu drehen. In der gegenwärtigen Nachrichtenlage komme ich mir vor wie Petrus auf dem See. Und zwar in den Momenten, wo er das sichere Boot verlassen hat. Das Boot aus Gedanken und Überzeugungen, die mich bisher getragen haben. Mein Boot war gezimmert aus Brettern des Völkerrechts, der Vernunft und der Zuversicht, dass die Friedenskräfte stärker sind als die Gewalttäter. Jetzt stehe ich inmitten hoher Wellen und stelle fest: übers Wasser gehen, das kann ich nicht. Ich kann mir nicht aus eigener Kraft Lösungen für Menschen in der Ukraine, in Israel, Gaza und im Libanon ausdenken. Ich vertraue darauf, dass Gottes Hand ausgestreckt bleibt: für alle, die nach ihr suchen und denen klar ist: alleine sind wir überfordert. Mit Gottes Hilfe werden sich Möglichkeiten auftun, die ich bisher nicht sehen kann.
Gott hält dich in seinen Händen
Ich war schon öfter in meinem Leben in Israel und würde auch gern wieder einmal hinfahren. Heute am Volkstrauertag und in den kommenden Zeiten denke ich an die Menschen im Land, die ich kenne. Und an alle anderen: Juden, Christen und Muslime. „Bis wir uns mal wiedersehen, hoffe ich, dass Gott dich nicht verlässt; er halte dich in seinen Händen.“