
Wer bin ich?
Schon Babys lernen jeden Tag, dass es für alles um sie herum Worte gibt. Auch für sie gibt es ein bestimmtes Wort, das ist ihr Name. Zum Beispiel Paula oder Niko, Aydin oder Amaris. Die meisten Kinder reagieren schon nach wenigen Monaten, wenn sie ihren Namen hören. Und irgendwann später fragt sich ein Kind vielleicht, ob es so ist wie alle anderen Kinder. Ob man auch unterschiedlich sein darf. Oder ob man etwas ganz Besonderes ist. Es fragt also: Wer bin ich?
Ein Kinderbuch von Mira Lobe
Ein Kinderbuch hat diese Frage wunderbar in Worte und Bilder gefasst. Es ist 1972 entstanden und wird bis heute gedruckt. Es heißt "Das kleine Ich-bin-ich". Es stammt aus der Feder von Mira Lobe. Darin geht ein kleines rotkariertes Tier mit langen orangegestreiften Ohren und einem blauen Haarbüschel auf dem Kopf fröhlich durch eine bunte Blumenwiese. Es freut sich an allem, was es sieht. Bis ein Frosch seinen Weg kreuzt und fragt, wie es heißt. Aber das weiß das kleine bunte Lebewesen nicht.
Kein Name für das kleine bunte Wesen
Es geht zu den anderen Tieren um sich herum und fragt sie: "Weißt du, wer ich bin?" Aber die Pferde, eine Kuh und die Fische schauen es nur kopfschüttelnd an. Nein, sagen sie, keine Ahnung. Nur eines wissen sie ziemlich genau, nämlich dass es nicht ist wie sie. Schließlich verspottet der Frosch das kleine bunte Wesen und sagt: „Wer nicht weiß, wie er heißt, wer vergisst, wer er ist, der ist dumm".
Ich bin ich
Da ist die Fröhlichkeit des Wesens verflogen. Traurig fragt es sich: "Stimmt es, dass ich gar nichts bin? Nur ein kleiner Irgendeiner?" So geht das kleine Tier traurig durch die Stadt und denkt nach. "Aber dann", so geht die Geschichte weiter, "bleibt das kleine Tier mit einem Ruck (…) mitten auf der Straße stehen und sagt ganz laut zu sich: Ich bin ich!" Jetzt freut es sich wieder an der schönen Welt. Denn es weiß, wer es ist: das kleine Ich-bin-ich. Und diese Antwort konnte ihm niemand anders geben.
Kinderbücher mit Geschichten über Toleranz, Zuneigung und Wärme
Ausgedacht hat sich diese Geschichte Mira Lobe. Schon früh hat sie begonnen, Bücher für Kinder zu machen, mehr als hundert wurden es. Und weil Kinder Bilder lieben, hat sie immer mit Illustratorinnen zusammen gearbeitet. So sind Bücher entstanden wie das vom Hasen Hoppelpopp, vom König Tunix und das vom kleinen Ich-bin-ich. Ihre Bücher sind geprägt von Wärme, Zuneigung und Toleranz. In den Geschichten geht es oft darum, auch scheinbare Außenseiter zu verstehen oder Geduld gegenüber den Schwachen zu zeigen. Den Figuren gelingt es, ein friedliches und gerechtes Miteinander zu entwickeln. Anders, als Erwachsene es oft vorleben.
Mira Lobe erzählt so feinfühlig von diesen sehr ernsthaften Lebensfragen, dass Kinder wie Erwachsene davon berührt werden. Die Frage "Wer bin ich?" spielte auch in ihrem eigenen Leben eine große Rolle. Wer war sie eigentlich, Mira Lobe?
Mira Lobe hat das Kinderbuch "Das kleine Ich-bin-ich" geschrieben. Es geht der Frage nach, wer man eigentlich ist. Diese Frage hat Mira Lobe selbst ihr ganzes Erwachsenenleben begleitet.
Von Kindheit an beschäftigte Mira Lobe die Frage, wer sie als jüdisches Mädchen ist
Denn geboren wurde sie als Hilde Mirjam Rosenthal 1913 in Görlitz, einer deutschen Stadt an der Grenze zum polnischen Schlesien. In einer jüdischen Familie. Von Kindheit an beschäftigte sie die Frage, wer sie als jüdisches Mädchen ist. Die Nazis brandmarkten Menschen jüdischer Abstammung als anders und fremd. Immer weiter wurden sie ausgegrenzt und verloren ihre Rechte.
Ausbildung statt Studium
Mira liebte die Sprache, Worte und Bücher. Nach der Schule wollte sie Germanistik studieren und Kunstgeschichte. Aber das war ihr als Jüdin in den 30er Jahren verboten. Sie absolvierte in Berlin stattdessen eine Ausbildung als Maschinenstrickerin.
1936 Flucht ins Exil nach Israel und ein Neuanfang
Mira und ihrer Familie gelang 1936 die Flucht ins Exil nach Israel, dem damaligen Palästina. Aber sie war auch in ihrer neuen Heimat in Tel Aviv erstmal fremd. Sie musste eine neue Sprache lernen und Kontakte knüpfen, eine neue Existenz aufzubauen. Sie fasste Fuß In Tel Aviv, einer pulsierenden und schnell wachsenden Stadt. Sie heiratete, bekam zwei Kinder und schrieb dort ihre ersten Geschichten.
Ein neuer Name
Mit ihrer Heirat gab sie sich auch einen neuen Namen. Nicht nur ihr Familienname änderte sich, das war ja damals bei Heiraten üblich. Sie änderte auch ihren Vornamen. Aus Hilde Mirjam Rosenthal wurde Mira Lobe. Damit hatte sie die Frage "Wer bin ich?" für sich beantwortet. Aus einem Mädchen, das so vieles nicht durfte war eine selbstbewusste Frau und kreative Schriftstellerin geworden.
Anfang der fünfziger Jahre ging sie mit ihrem Mann, einem Schauspieler und Regisseur, zurück nach Europa. Bis zu ihrem Tod 1995 lebte sie in Wien. Dort entstand ihre Geschichte "Das kleine Ich-bin-ich". Ein Kinderbuch. Aber eben auch eine Antwort auf die Frage "Wer bin ich."
Mira Lobe erlebte als jüdisches Kind Ausgrenzung
Ich weiß nicht, ob der jüdische Glaube von Mira Lobe zur Antwort geführt hat. Für mich klingt das so. Denn als jüdisches Kind erlebte sie, dass ihre Familie ausgegrenzt wurde. Ich stelle mir vor, wie sie Zuhause fragte, warum andere Mädchen nicht mit ihr befreundet sein wollten. Und vielleicht haben ihre Eltern sie getröstet mit Worten des Glaubens an den Gott, der sie bei ihrem Namen gerufen hat und der ihr immer zur Seite sein würde.
So hat Mira Lobe trotz aller Not ihr Glück gefunden und ihre schriftstellerische Begabung leben können. Ihren Büchern spürt man diesen Weg an. Darum können sie auch Erwachsene bis heute so anrühren.
Wer bin ich mit meinen Beeinträchtigungen?
Anett ist 42 Jahre alt. Sie bekam das Kinderbuch "Das kleine Ich-bin-ich" der Schriftstellerin Mira Lobe in einer Reha von ihrer Therapeutin in die Hand. Anett hat eine chronische Krankheit. Ihr Leben konnte nicht mehr weitergehen wie bisher. Die ersten Monate nach der Diagnose waren von Krankenhausaufenthalten und einer großen Schwäche verbunden. Sie konnte nicht mehr für ihre Familie da sein wie bisher. Und sie wird nicht mehr berufstätig sein können. Auch für sie stand die Frage im Raum: Wer bin ich denn - jetzt? So? Mit meinen Beeinträchtigungen?
Durch kummervolle Selbstzweifel zu einem neuen Selbstbewußsein
Das Buch vom kleinen Ich-bin-ich berührte sie zutiefst. Es war, als führte es sie durch ihre kummervollen Selbstzweifel zu einem neuen Selbstbewusstsein. Sie begann, sich anzunehmen mit ihren besonderen Herausforderungen. Ihren Weg will sie gehen, selbstbewusst, ohne Vergleiche zu anderen. Nicht eine Karriere oder äußere Bestätigungen, sondern ihre eigene Freude am Leben sind ihr seitdem im Blick. Und im Herzen.
Die Frage "Wer bin ich?" bedeutet vielleicht "Wer bin ich eigentlich?" Was macht mich aus? Gelte ich nur, wenn ich etwas leiste? Muss ich denn sein wie alle anderen? Oder kann ich zu meinem eigenen Leben stehen?
Eltern überlegen sich schon lange vor der Geburt einen Namen für das Kind
Ich finde, der eigene Name ist dafür schon mal ein guter Beginn. Fast immer überlegen werdende Eltern sich schon lange, bevor ihr Kind geboren ist, wie es heißen soll. Manche suchen einen Namen mit Tradition aus. Andere möchten an jemanden in der Familie erinnern. Und wieder andere überlegen sich, der Name soll so besonders sein wie ihr Kind und schauen nach etwas Ungewöhnlichem.
Man wird ein Leben lang von dem eigenen Namen begleitet
Obwohl sie das kleine werdende Menschenkind noch gar nicht kennen, verbindet sich mit dann ihm bereits dieser Name. Das bedeutet, die Eltern kennen es, sie werden es bei diesem Namen rufen, es wird ein Leben lang begleitet sein vom eigenen Namen.
Bei der Taufe wird der Name fest verbunden mit dem Namen Gottes
Auch bei Gott hat jeder Mensch einen Namen und eine einzigartige Persönlichkeit. Für Christinnen und Christen wird das in der Taufe deutlich. Die Persönlichkeit eines Menschen - und sei er noch so klein - wird mit einem Namen verbunden und damit benennbar. Und dieser Name wird zugleich fest verbunden mit dem Namen Gottes. Das erinnert daran: jede und jeder ist ein Ebenbild Gottes. Einmalig und besonders.
"Freut euch, dass eure Namen im Himmel geschrieben sind."
Jesus erinnert seine Wegbegleiter*innen daran, wenn er sagt: "Freut euch, dass eure Namen im Himmel geschrieben sind." (Lukas 10,20) Wie schön, dass nicht Leistungen oder Erfolge entscheidend sind, sondern dass Gott jedes Menschenkind kennt und liebt und ihre Namen fest bei sich bewahrt.
Als Ebenbild Gottes bin ich einmalig. Und was mich in meiner Unverwechselbarkeit ausmacht, das kann ich selbst versuchen zu erkennen. Und mich dann wie das kleine Ich-bin-ich als Teil dieser wunderbaren Welt über alles Schöne und Gute darin freuen.