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Die Komfortzone als Risikogebiet
Bild: Hermann Trusheim privat

Die Komfortzone als Risikogebiet

Hermann Trusheim
Ein Beitrag von Hermann Trusheim, Evangelischer Schulpfarrer, Hanau
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Auf meinem Profilbild in den sozialen Medien sitze ich am Steuer eines McCormick D324. Und für alle, die nicht gleich wissen, was das für ein Fahrzeug ist: Das ist ein Traktor, oder wie wir in Nordhessen sagen, ein Bulldog der Marke McCormick mit 24 PS. Er ist Baujahr 1961, genau wie ich. So einen Bulldog hatten wir auf unserem Hof.

Die Kindheit auf dem Bauernhof hatte mit ländlicher Idylle wenig zu tun

Mit ländlicher Idylle hatte meine Kindheit auf dem Bauernhof wenig zu tun, eher mit viel Arbeit. Denn eine Kuh macht Muh, viele Kühe machen Mühe. Die wollen gefüttert, gemistet und gemolken werden, jeden Tag. Noch mehr Arbeit fällt in der Zeit zwischen Saat und Ernte an. Das Ende der Ernte war ein Höhepunkt des Jahres. Bäuerliches Leben bestimmte unser Dorf.

Eine bunte Kirche zu Erntedank

Am Erntedankfest haben wir gewetteifert, wer die schönsten Ernteprodukte zum Schmuck des Altarraumes der Kirche mitbringt: Kartoffeln, Getreidegarben, Honig, Marmelade, Äpfel und Birnen, alle Sorten Kohl. Das war schön bunt in der Kirche.

Das Sachbuch des Jahres 2023: Ein Hof und 11 Geschwister

Die Zeiten haben sich geändert. Der Historiker Ewald Frie hat ein Buch mit dem Titel ‚Ein Hof und 11 Geschwister‘ geschrieben. Es wurde zum Sachbuch des Jahres 2023 gewählt. Frie hat seine vielen Geschwister interviewt - heraus kann eine Kulturgeschichte bäuerlichen Lebens von der Nachkriegszeit bis in die Moderne. Ich habe das schmale Buch geradezu verschlungen - es erzählt meine Geschichte und die Geschichte vieler Kinder meiner Generation auf dem Land: morgens und abends in den Stall, Rübenhacken, Kartoffeln ausmachen, die ganze Familie eingespannt. Gerade in der Heu- und Getreideernte immer der Blick zum Himmel: ist das Wetter günstig? Und ja, es wurde auch dafür gebetet.

"Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben"

Der Untertitel von Fries Buch lautet: ‚Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben‘.  Das stimmt. Die radikale Veränderung in der Landwirtschaft blieb von der Gesellschaft eher unbemerkt. Heute gibt es Dörfer ohne Bauern. Das unbarmherzige Wirtschaftsgesetz vom "Wachsen oder Weichen" hat zu Agrar- und Fleischfabriken geführt. Das Preisdiktat der großen Lebensmittelkonzerne und eine verfehlte Agrarpolitik haben den Abschied vom bäuerlichen Leben immer mehr beschleunigt.

Sämtliches Obst und Gemüse ist heute allzeit verfügbar

In den Supermärkten bemerkt man davon nichts – im Gegenteil: sämtliches Obst und Gemüse sind allzeit verfügbar, vieles zu Preisen, bei denen einheimische Erzeuger nicht mehr mitkommen. Die ganze Welt beliefert uns. Das gilt auch für Fleischprodukte. Wir ernten sozusagen ganzjährig. Damit haben wir eine bisher nicht gekannte Komfortzone erreicht, die viele für selbstverständlich halten.

Heute oder am nächsten Sonntag wird in diesem Jahr Erntedankfest gefeiert. Wie da wohl der Altarraum aussieht – geschmückt mit Produkten aus der Komfortzone?

Musik 

Wir leben in unsrer Komfortzone auf Kosten der Umwelt

Ich frage mich: Was ist das für eine Komfortzone? Ich denke: wir leben eher in einem Risikogebiet. Unser Komfort ist in Wirklichkeit ein Risiko: Wir leben auf Kosten der Umwelt, der globalen Menschheit und unserer Nachkommen. Erdbeeren, Tomaten, exotische Früchte, über tausende Kilometer mit dem Flugzeug zu uns gebracht. Inzwischen dämmert es vielen: Wir müssen raus aus der Komfortzone. Aber das klingt nach Einschränkung und Verzicht. Ich finde, es müsste vielmehr heißen: Wir müssen raus aus dem Risikogebiet.

Das klingt nicht nach Verzicht, sondern nach Rettung. Die entdecke ich nicht in den gnadenlosen und unbarmherzigen Gesetzmäßigkeiten einer durchökonomisierten Welt.  -  Aber schon immer gibt es zu einer solchen Risikogesellschaft Gegenentwürfe, sozusagen Rettungsangebote. 

Gott gibt ein Versprechen

Für mich macht Gott so ein Angebot.  Am Ende der Sintfluterzählung gibt Gott ein Versprechen: Sommer und Winter, Frost und Hitze, Saat und Ernte sollen für immer bleiben (Genesis 8,22) . Damit ist gemeint: Gott stellt uns unsere Lebensgrundlagen zur Verfügung, und er meint es gut mit uns. Und noch mehr: Gott schließt einen Bund mit den Menschen, der Regenbogen ist sein Zeichen dafür. Den Menschen obliegt in diesem Bund der verantwortungsvolle Umgang mit der Schöpfung: Menschen, Tieren und Pflanzen. Von Gottes Seite aus wird dieser Bund niemals aufgekündigt werden.

Erntedank ist eine gute Gelegenheit sich an den Bund mit Gott zu erinnern

Erntedankfest ist eine gute Gelegenheit, sich an diesen Bund zu erinnern. Die Sintfluterzählung nimmt ernst, dass die Menschen die Welt zum Risikogebiet machen können, sie handeln oft gegen sich, gegen andere und gegen die Schöpfung.  Aber das Anliegen Gottes in der Sintfluterzählung ist es, Menschen zu retten. Darauf kann ich mich verlassen und meinen Teil tun: Nachschauen woher das kommt, was sich im Regal anbietet. Jahreszeitlich und selber kochen. Sich Zeit nehmen zum Nachdenken: Vor zu viel kommt genug. Und das reicht.

"Mit Gott im bunt"

Die Gemeinde Steinheim in Hanau feiert in diesem Jahr Erntedankfest unter dem Motto: ‚Mit Gott im bunt‘. Auf der Einladung wird bunt – mit ‚T‘ geschrieben, wie das Bunt, das für Vielfarbigkeit steht. Aber natürlich soll es auch an den Bund mit ‚D‘ erinnern, den Bund Gottes mit den Menschen aus der Noaherzählung. Was für eine kreative Idee! Der Bund mit Gott macht das Leben regenbogenfarben bunt. Neben einem Gottesdienst in der geschmückten Kirche gibt’s natürlich satt zu essen und zu trinken und eine besondere Aktion: 5.000 ‚Brote für die Welt‘ werden von den Konfis verkauft. So geht Erntedank 2024.

Musik 

Die Modernisierung der Landwirtschaft hat auch Gutes gebracht

Ewald Fries Buch über den stillen Abschied vom bäuerlichen Leben ist eine sachliche Bestandsaufnahme. Kein Aufruf, in alte Zeiten zurückzukehren, kein sentimentaler Rückblick auf vermeintlich idyllische Zeiten. Die Modernisierung der Landwirtschaft hat auch Gutes gebracht. Auf der Agritechnika, der großen Landwirtschaftsausstellung in Hannover, habe ich mit großem Interesse die Entwicklung der Landmaschinen hin zu bodenschonender Bearbeitung wahrgenommen. Landwirte erzeugen lieber auf verantwortungsvolle Weise gesunde Lebensmittel. Und Verbraucher lassen sich das durchaus auch was kosten.

Die Schöpfung Gottes ist ein hohes Gut

Da ist etwas angekommen: Die Schöpfung Gottes ist ein hohes Gut. Gott hat uns seine Schöpfung anvertraut, um sie zu bebauen und zu bewahren. Wir können auf das Angebot von Gottes Bund eingehen, auch an der Ladentheke – ein Lieferkettengesetz würde zu mehr Transparenz und Gerechtigkeit für die Erzeuger auf der ganzen Welt helfen. 

Unseren alten Bulldog, den McCormick D324, haben wir schon lange nicht mehr. Der wäre nur noch was für Brauchtumsveranstaltungen. Aber in meinem Regal steht ein Spielzeugmodell vom D324, das erinnert mich daran, Erntedank den Gottesdienst zu besuchen.

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