Herz und Ohren offenhalten
In unserer Nachbarschaft gibt es Hühner und natürlich gehört dazu auch ein Hahn. Der verrichtet jeden Morgen treu seinen Dienst. Aus lauter Kehle ruft er mit dem ersten Licht des Tages so lange, bis die Sonne hell am Himmel steht. Da fällt es meiner Frau und mir natürlich schwer zu schlafen. Das regelmäßige und doch dann auch manchmal unregelmäßige tierische Rufen hat das Potenzial, uns zur Weißglut zu treiben. Hinzu kommt, dass wegen der sommerlichen Temperaturen am Tag unser Schlafzimmerfenster des nachts offenbleiben muss. Unter diesen Gegebenheiten entwickelt sich jeden Morgen ein ähnliches Spiel. Und zwar nicht zwischen dem Hahn und uns. Das ist klar: Der Hahn gibt alles. Nein, das Spiel läuft zwischen meiner Frau und mir und heißt: Wer schließt zuerst das Schlafzimmerfenster? Im Halbschlaf läuft das Ganze dann wie folgt ab: Zunächst gibt es jeweils von der rechten oder linken Seite des Bettes ein asynchrones hin und her Wälzen. Dann folgt von Zeit zu Zeit ein genervtes Stöhnen aufgrund der Lautstärke des gefiederten Rufers. Schließlich quält sich einer von uns aus dem Bett, schleicht zum Fenster und schließt es.
In diesem Geschehen habe ich gegenüber meiner Frau einen Vorteil: Ich höre seit einem Hörsturz auf dem linken Ohr schlechter. Das mache ich mir in dieser Situation dann zunutze. Wie das Sprichwort sagt, haue ich mich aufs Ohr, das heißt, ich lege mich mit dem guten Ohr aufs Kissen, höre mit dem anderen krähenden Quälgeist kaum noch und schlafe dadurch wieder schneller ein. Meine Frau ist also oft jene, die sich zum Fenster schleppt und es schließt.
Schlecht zu hören ist in anderen Alltagssituationen für mich nicht so ideal. Wenn meine Kinder durcheinanderreden oder etwas leise sagen, verstehe ich es nicht. Ich werde unsicher oder unwillig und muss nachfragen. So etwas strengt an, zuallererst mich und dann auch meine Familie. Es wäre schön, besser zu hören. Damit das funktioniert, werde ich wohl irgendwann ein Hörgerät brauchen, so wie rund 11 Prozent der Bevölkerung in Deutschland1.
Nicht mit den Ohren, sondern mit dem Herzen hören
Wie es ist gar nichts zu hören, darum geht es heute im katholischen Sonntagsgottesdienst. Da wird aus der Bibel ein Text aus dem Markusevangelium vorgetragen: Darin geht es um einen Menschen, „der taub war und stammelte"2, wie es wörtlich heißt. Jesus heilt diese Person aber ganz anders, als es die Menschenmenge wollte. Er verwendet Speichel, was abstoßend wirkt. Es lohnt sich also, diesen Text genauer anzuschauen3.
Musik
Laut dem Markusevangelium vollbringt Jesus dieses Wunder im Gebiet der Dekapolis, also in einer heidnischen Gegend von zehn Städten auf der Ostseite des Sees von Galiläa. Die Menschen da sind keine Juden, sondern glauben eher an viele Götter, so wie es die Griechen und die Römer taten. Von Jesus und seinen Wundern scheinen sie schon gehört zu haben. Jedenfalls heißt es im Text wörtlich: „Da brachten sie zu ihm einen, der taub war und stammelte, und baten ihn, er möge ihm die Hand auflegen."4
Es könnte gut sein, dass sie Jesus auf die Probe stellen wollen. Aber Jesus entspricht ihrem Wunsch nicht. Er heilt den Mann nicht auf großer Bühne vor ihren Augen. Stattdessen nimmt er ihn zur Seite. Jesus fühlt sich in die Situation des Betroffenen ein: Der Mann stammelt, er stottert also, und daher ist ihm eine große Menschenmenge zuwider. Zudem soll seine Krankheit nicht als Experimentierobjekt für Jesu Heilkräfte dienen. In dieser Art von Rampenlicht will sicherlich der Mann nicht stehen und das will auch Jesus nicht.
Speichel als Heilsbringer
Die Heilung des Mannes wirkt anschließend wie Magie. Jesus legt die Finger in die Ohren und berührt die Zunge des Mannes mit Speichel. Laut Religionsforschern soll Speichel damals eine heilende und dem Bösen abwehrende Kraft zugeschrieben worden sein. So ungewöhnlich das heute mit Blick auf den Text klingen mag, manches davon ist bis in die Gegenwart erhalten. Eltern beispielsweise trösten ihre Kinder, indem sie auf eine frische Wunde kräftig pusten oder sogar ihren Speichel draufschmieren. Da geht es – heute wie auch damals bei Jesus – nicht um einen medizinischen Aspekt. Hier steht vielmehr die liebende Zuwendung im Mittelpunkt. Jesus zeigt also dem Mann sein Mitgefühl, ja seine Liebe. Das wird im Bibeltext auch dadurch deutlich, dass Jesus in diesem Zusammenhang seufzt und zum Himmel aufblickt.
Bemerkenswert ist, dass in dieser ganzen Szene nur ein Wort gesprochen wird. Und zwar nur von Jesus. Der fordert den Mann nicht etwa auf nach dem Motto: „Hör doch“ oder „sprich wieder“. Stattdessen ruft Jesus ihm zu: „Effata! Das heißt: Öffne dich!“5 Mit dieser Aufforderung tut sich eine weitere, ganz neue Dimension auf: Das „Öffne dich“ spricht das Herz des Mannes, ja den ganzen Menschen an. Er soll weit werden, wieder Mut und Selbstvertrauen fassen und sich so neu seiner Umwelt zuwenden.
Die Bibel macht hier klar: Noch bevor es um das Sprechen geht, gilt es zu hören, und zwar tief ins eigene Herz hinein. Da will Gott dem Menschen in alltäglichen Erlebnissen oder Begegnungen nahe sein. Dafür gilt es offen zu sein. Erst dann ist auch die Zunge von der Fessel befreit und funktioniert wieder richtig, so wie es im Text heißt. Damit meint die Bibel: Das Leben aus dem Glauben heraus mit Gebet und Verkündigung funktioniert wieder.
Musik
„Effata! - Öffne dich“
Noch wichtiger als die Ohren zu öffnen, ist also den Blick des Herzens wach zu halten. In eindrucksvoller Weise kann das in der Feier einer Kindertaufe erlebt werden. In einem solchen Gottesdienst erbitten Eltern den Segen für ihr Neugeborenes und das Kind in die Kirche aufgenommen. Am Ende einer solchen Feier kann ein kleiner unscheinbarer Ritus stehen, der an die heutige Bibelstelle erinnert. Dieser ist nach dem einzigen Wort benannt, dass Jesus heute im Evangelium spricht: „Effata - Öffne dich.“ Der Taufspender berührt dabei die Ohren und den Mund des Kindes und bittet mit dem Ruf „Effata“ darum, dass jenes Kind Gottes Wort vernehmen und dann einst im Leben den Glauben bekennen möge.
Als junger Messdiener, der immer mal bei einer Taufe dabei war, habe ich bei diesem Ritus immer an einen Ritterschlag gedacht. Die Ritter bekamen ja im Mittelalter bei der Zeremonie eine Ohrfeige, damit sie sich an ihre Gelübde noch besser erinnern. Daher kommt wohl auch die Redewendung „sich etwas hinter die Ohren schreiben“. Bei der Taufe eines Kindes hat diese negative Konnotation einer Ohrfeige natürlich nichts zu suchen. Ganz im Gegenteil: In diesem Ritus findet eine behutsame und liebevolle Begegnung zwischen Gott und Mensch Ausdruck. Da geht es darum, dass sich Gott mit dem ganzen Herzen im sinnlichen Zeichen der Ohren und des Mundes mit dem Herz des Kindes verbindet. Es ist also ein ganz eigener Ritterschlag von Gott her, dessen Rüstung die Liebe ist und er damit gar keine Rüstung kennt. Das Kind wird so mit göttlicher Würde geadelt, die darin besteht, im Herzen für Gottes Liebe offen zu sein, und zwar ganz gleich, wie gut es um das körperliche Hörvermögen bestellt ist.
Diesen Gedanken aufgreifend schaue ich noch mal auf das morgendliche Spiel mit dem krähenden Hahn, das ich meistens gewinne, indem ich mich wegdrehe und aufs gute Ohr lege. Das „Effata“ für mich in diesem Moment kann heißen: Beim ersten Hahnenschrei drehe ich mich nicht weg. Stattdessen stehe ich aus Liebe zu meiner Frau auf und mache als erster das Fenster zu. Vielleicht sogar so schnell, dass sie erst gar nicht wach wird. Da geht es dann im übertragenen Sinn um ein Öffnen: Ich schließe zwar ein Fenster, aber mache mein Herz am Morgen weit für die Liebe, für die Liebe meiner Frau, für die von anderen Menschen, aber auch für die von Gott, die er mir jeden Morgen schenken will.
1 EuroTrak Hörstudie Deutschland 2022, Bundesverband der Hörsysteme-Industrie
2 Markusevangelium Kapitel 7 Vers 32
3 Markusevangelium Kapitel 7, Verse 31 bis 37
4Markusevangelium Kapitel 7, Vers 32
5 Markusevangelium Kapitel 7, Vers 34