Märchen für Erwachsene
Zu meinen Kindheitserinnerungen gehören Märchen. Vorgelesene Märchen und erzählte Märchen. Märchen zum Einschlafen und Märchen nachmittags auf dem Sofa mit dem alten Märchenbuch auf dem Schoß. Märchen der Brüder Grimm, von Hans-Christian Andersen und aus so vielen Ländern der Welt.
Als Kind konnte ich Märchen immer und immer wieder hören. Später als Erwachsene haben Märchen keine Rolle mehr in meinem Leben gespielt. Für mich waren sie einfach Geschichten aus meiner Kindheit. Bis ich auf einen Vortrag gestoßen bin: Da ging es um Resilienz in Märchen. Also um die seelische Widerstandskraft von Menschen.
Das hat mich neugierig gemacht. Ich habe mich gefragt, was denn ein solches Erwachsenenthema mit meinen vermeintlichen Kindergeschichten zu tun hat. Und ich durfte staunen: Die Referentin des Vortrags erzählte davon, wie Märchen aus psychologischer Sicht verstanden werden können.
Und da ging es dann auch um die Resilienz. Davon gibt es nämlich zum Beispiel im Märchen von Aschenputtel ganz viel. Aschenputtel wird von ihrer bösen Stiefmutter und ihren beiden Stiefschwestern drangsaliert, muss den ganzen Tag hart arbeiten und so manche Demütigung ertragen. Ziemlich frustrierend stelle ich mir das vor. Ich an ihrer Stelle würde vielleicht verzweifeln, denn es scheint ja wirklich alles schlecht zu sein und schief zu laufen. Und dabei ist nicht mal die Hoffnung auf Besserung in Sicht.
Können wir von Aschenputtel wirklich was lernen?
Doch Aschenputtel kann damit umgehen. Hier nämlich kommt ihre Resilienz ins Spiel, ihre Fähigkeit, mit den Widrigkeiten des Lebens umgehen zu können und eben nicht an ihnen zu verzweifeln. Aschenputtel hat einen Kraftort und eine Kraftquelle. Immer wieder geht sie zum Grab ihrer Mutter. Dort ist ihr Ort, um Pause zu machen. Um eine Auszeit zu nehmen. Um mal kurz abzuschalten. Von ihrer Mutter fühlt sie sich auch nach deren Tod noch geliebt; hier kann sie ihre Sorgen abladen und sich alles von der Seele reden.
Diese Zeiten an ihrem Kraftort werden zum Schlüssel für Aschenputtels Leben. Intuitiv weiß sie, was sie braucht. Und dann bleibt sie nicht in ihrer zugeteilten Rolle, sondern sie wird aktiv. Sie nimmt ihr Leben selbst in die Hand. Aschenputtel kümmert sich um sich selbst und um das, was sie braucht. Sie erweist sich als resilient.
Und ich glaube, das ist es auch, was ich als Erwachsene aus diesem Märchen mitnehmen kann: Es lädt mich ein, über meine Kraftorte und Kraftquellen nachzudenken. Zu überlegen, was ich gerade in meinem Leben brauche, damit ich nicht passiv bleibe, sondern es aktiv in die Hand nehme und gestalte.
Was sind Ihre Kraftorte und Kraftquellen?