Ihr Suchbegriff
Beitrag anhören:
Vor lauter Bäumen den Wald nicht sehen
Bild:lefteye81/Pixabay

Vor lauter Bäumen den Wald nicht sehen

Steffen Flicker
Ein Beitrag von Steffen Flicker, Schulleiter der katholischen Schule Marianum Fulda und Vorsitzender des Katholikenrates im Bistum Fulda
Beitrag anhören:

Wie oft seh ich vor Bäumen den Wald nicht mehr? Wie oft lass ich mich stehen, lauf anderen hinterher? Vergrab meine Träume, leih mir andere aus. Mein Original gegen eine Kopie getauscht?“ So heißt es in einem Liedtext der deutschen Sängerin Lotte.
Wer kennt das nicht? Vor lauter Bäumen kann ich den Wald nicht sehen. Ich bin so sehr mit Kleinigkeiten beschäftigt, ich halte mich mit Einzelheiten auf – und übersehe dabei das große Ganze.

Die Redewendung „Vor lauter Bäumen den Wald nicht sehen“ ist vor allem durch den deutschen Dichter Christoph Martin Wieland (1733 - 1813) im 18. Jahrhundert bekannt geworden. Wieland erwähnt dieses Bild immer wieder in seinen literarischen Werken. Etwas, das ich suche, kann ich nicht finden, obwohl es direkt vor mir liegt.

Ja, das passiert mir auch oft. Ich setze mich mit Details auseinander, grüble über eigentlich Nebensächliches stundenlang: Wieso? Weshalb? Warum? Und ich vergesse dabei den größeren Zusammenhang, das, worauf es wirklich ankommt.  Aber worauf kommt es denn wirklich an? Was ist also der größere Zusammenhang? Dass ich lebe, dass ich gesund bin, dass es mir gut geht. Ist das nicht das Wesentliche? Ist das nicht der Wald, den ich manchmal vor lauter Bäumen nicht sehen kann?

Dagegen bemerke ich eher das Ärgerliche, das mir passiert. Eine kurze Bemerkung von jemanden gegenüber mir, die mich verunsichert oder irritiert. Eine Verhaltensweise mir gegenüber, die ich nicht einordnen kann. All das kann mich manchmal länger beschäftigen als das Glück, gesund mein Leben zu leben. Sind das nicht die vielen kleinen und großen Bäume, die mich den Wald nicht sehen lassen können?

Sich selbst im Wald der Aufgaben und Herausforderungen nicht verlieren – das braucht Ruhe und Gelassenheit

„Wie oft lass ich mich stehen, lauf anderen hinterher“ – heißt es in dem Song von Lotte. Ja, das kenne ich. Mich stehen lassen. Aber das kommt auch deswegen vor, weil wir Menschen keine Maschinen sind. Ich muss mit meinem Selbst, mit meinen Gedanken, mit meinen Empfindungen hinterherkommen. Das Leben besteht nicht nur aus dem Abhaken von To-do-Listen. Manchmal ist es so viel komplexer – und dann lasse ich mich stehen.

Ruhe bringt Kraft, auch Jesus hat sie sich genommen

Über Jesus wird in der Bibel berichtet, dass er in einer vergleichbaren Situation seine Freunde aufforderte: „Kommt, wir gehen an einen einsamen Ort, wo wir allein sind und wo wir uns ein wenig ausruhen können.“ Nachdenken, sich dafür Zeit nehmen – das ist ganz wichtig. Eine Art „Auszeit“. Eine Auszeit, um den Wald, also die größeren Zusammenhänge zu erfassen, um Dinge zu reflektieren und sie einzuordnen. Ich bin keine Maschine und ich kann nicht immerfort funktionieren und mich perfektionieren. Wer sich nie Zeit zum Nachdenken nimmt, trifft auch irgendwann keine klugen und abgewogenen Entscheidungen.

Ich wünsche mir und Ihnen, dass Sie sich Zeit nehmen können, um Argumente und Meinungen gut abwägen zu können, um gute Entscheidungen zu treffen, damit wir vor lauter Bäumen den Wald sehen können.

Weitere ThemenDas könnte Sie auch interessieren