
Jüngstes Gericht?
„Kaputthauen müsste man den!“ Der achtjährige Marvin kommt aus dem Phantasieren gar nicht mehr raus, was man mit Kriegstreibern machen müsse. Wir haben in der Schule über Krieg und Frieden gesprochen. Die Schülerinnen und Schüler meiner zweiten Klasse im Religionsunterricht beschäftigt das sehr.
Gerechtigkeit für die Opfer des Krieges
Kriegstreiber kaputthauen - mein pazifistisches Herz erschrickt bei diesen Rachephantasien. Gleichzeitig sehne ich mich wie Marvin nach Gerechtigkeit für alle, die fliehen und mit Verwüstung, Terror und Angst leben. Ich spüre Ohnmacht und Wut angesichts der Willkür Russlands, Getreidelieferungen zu blockieren und die Infrastruktur der Ukraine auf Jahrzehnte zu zerstören.
"Die Rache ist mein, spricht der Herr."
Ich frage mich, wie denn solche Rache anders aussehen kann als gewaltsam. In der Bibel steht: „Die Rache ist mein, spricht der Herr.“ (5. Mose 32,35) Das heißt, dass die Art und Intensität der Rache Gottes Sache ist. Wer diesen Satz ernst nimmt, agiert nicht selbst aus, was er an Rachegelüsten im Herzen hat. Er überantwortet die Rache an eine allmächtige Instanz, an Gott.
Gott soll mit meiner Wut und Ohnmacht was Gutes anfangen
Mir hilft das. Ich schicke meine Wut und meine Ohnmacht gen Himmel. Gott soll damit etwas Gutes anfangen. Ich bekomme das Herz frei für Konstruktives. Rachegedanken kreisen ja immer um die Täter. Um die geht es sowieso viel zu viel. Was ist mit denen, die leiden?
Gott selbst muss Gerechtigkeit herstellen
Ich habe mich darüber mit einem guten Bekannten, Christopher unterhalten. Er kommt aus den USA und hat den 11. September 2001 als Jugendlicher erlebt. Auf meine Frage, ob er besonders mitfühlen kann mit den Menschen in der Ukraine, antwortet er mir anders, als ich erwartet habe. Er sagt: „Es muss so etwas wie ein Jüngstes Gericht durch Gott geben, etwas, wodurch Gott selbst Gerechtigkeit herstellt.“
Gottes Gerechtigkeit ist für die Opfer da
Beim Jüngsten Gericht denkt man an ewige Verdamnis und Hölle. Mein New Yorker Bekannter Christopher meint etwas Anderes. Er sagt: „Beim Jüngsten Gericht geht es um die, die unter Gewalt leiden. Gottes Gerechtigkeit ist für die Opfer da. Sie brauchen die Gewissheit, dass das Unrecht gesühnt wird und dass sie ohne Angst leben können. Dafür braucht es ein göttliches Gericht, weil wir Menschen so eine umfassende Gerechtigkeit nicht herstellen können.“
Wie könnte eine gerechtere Welt aussehen?
Dieses Gespräch mit Christopher im Kopf bin ich wieder im Religionsunterricht in meiner zweiten Klasse: Die Kinder überlegen, wie eine gerechtere Welt aussehen könnte für die, die hier zu Opfern wurden: Kinder, Eltern und Großeltern können frei atmen und hüpfen, töpfern und lachen, springen und schwimmen, Kastanien sammeln und abends unter dem Sternenhimmel einschlafen oder in einem weichen Bett. Kinder können in die Schule gehen und finden immer wieder Wege, sich zu vertragen.
Besser als Rache
Ich lausche, wie die Zweitklässler sich eine Welt mit Gerechtigkeit für die Opfer ausmalen, und denke: Besser als Rache.