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Ich sehe so, wie du nicht siehst
Bild: pexels / Thirdman

Ich sehe so, wie du nicht siehst

Dr. Ursel Wicke-Reuter
Ein Beitrag von Dr. Ursel Wicke-Reuter, Evangelische Pfarrerin, Vellmar
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„Ich sehe so, wie du nicht siehst.“ Unter diesem Motto wurde der Tag der Sehbehinderten ins Leben gerufen. Heute am 6. Juni wird er begangen. „Ich sehe so, wie du nicht siehst“. Über diesen Titel stolpere ich, denn im Ohr habe ich ein Kinderspiel, das so ähnlich klingt: „Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist rot.“

Menschen mit einer Sehbehinderung sehen anders 

Ich stolpere über den feinen Unterschied in der Formulierung. Ich sehe so, wie du nicht siehst. Offenbar sehen Menschen mit einer Sehbehinderung auch, aber anders als Menschen ohne diese Beeinträchtigung. Das macht mich neugierig. Wie sieht man mit einer Sehbehinderung? Im Internet finde ich einen Simulator. Er zeigt mir zum Beispiel, wie ich ein Puzzle durch Augen sehe, die am Grauen Star leiden. Die Puzzleteile sind ganz verschwommen. Ich ahne, wie schwer es sein muss, mit einer Sehbehinderung den Alltag zu meistern.

Blinde sehen etwas, was Sehende nicht wahrnehmen

„Ich sehe so, wie du nicht siehst.“ Das trifft auch auf Menschen zu, die ganz ohne Augenlicht leben. Blinde sehen etwas, das ich als Sehende nicht wahrnehme. Ich frage dazu einen Bekannten, der blind ist. Ich nenne ihn Bernhard. Was nimmst du wahr, das ich nicht sehe, möchte ich wissen? Da kann er mir einiges erzählen. Bei ihm sind die anderen Sinne aufmerksamer, weil er sie mehr gebraucht. Zum Beispiel der Tastsinn. Der ist bei Menschen mit einer Sehbehinderung dauernd gefragt. Durch diese Übung entwickeln die Finger ein feines Gespür. Blinde Menschen arbeiten deshalb häufig in der Physiotherapie – mit großem Erfolg. Sehende können davon profitieren. Auch der Hörsinn ist bei Bernhard sehr geübt. Wenn Bernhard Besuch bekommt, hört er schon am Schritt, wer der Besucher ist. 

Menschen nicht nach ihrem Erscheinungsbild beurteilen

Als unser Gespräch fast zu Ende ist, fällt ihm noch etwas ein: Ich beurteile Menschen nicht nach ihrem Äußeren, sagt er. Mit diesem Satz hält er mir einen Spiegel vor. Mir wird klar, wie sehr das Erscheinungsbild einer Person meine Wahrnehmung bestimmt. Und wie schnell sich dieser äußere Eindruck bei mir festsetzt. So kann es passieren, dass ich Wichtiges übersehe oder zu einem falschen Urteil gelange, gerade weil ich sehen kann. 

Eine gute Orientierung für Blinde und Sehende

Mir kommt ein Bibelvers in den Sinn: „Der Mensch sieht nur auf das Äußere, Gott aber sieht das Herz an“ (1. Sam. 16,7). Eine gute Orientierung, für die die sehen können und auch für die, die blind sind. Gott schaut in unser Herz, er sieht die Freude und den Lebensmut, er sieht unsere Verletzungen und unsere Bedürftigkeit. Gott sieht unsere Fähigkeiten und Schwächen - er sieht all das, was uns als Mensch ausmacht. 
Davon können wir uns in den Begegnungen mit anderen leiten lassen, Blinde und Sehende: Wir können uns fragen, was diesen Menschen bewegt und was in ihm steckt. Und wir können darauf zählen, dass Gott für uns Menschen den richtigen Blick hat. 
 

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