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Der Kuckuckszweig
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Der Kuckuckszweig

Sabine Müller-Langsdorf
Ein Beitrag von Sabine Müller-Langsdorf, Evangelische Pfarrerin, Zentrum Oekumene, Frankfurt
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Vor ein paar Wochen hat mein Mann im Garten den Kirschbaum beschnitten. Ein paar Zweige stellte er in eine Vase auf die Fensterbank. Ich war am nächsten Tag zufällig in einem Blumenladen. Dort stand allein und wunderschön ein blühender Quittenzweig zum Verkauf. Kurzerhand nahm ich den hübschen Zweig mit und stellte ihn zu den Kirschen aus dem Garten.

Ein blühender Quittenzweig zwischen den Kirschzweigen

Und dann überfiel mich die Hinterlist. „Mal sehen, wann er es merkt…mal sehen, was er sagt“ dachte ich und wartete ab. Nicht lange, und mein Mann stand staunend vor der Vase. „Die Kirschen blühen!“ rief er und holte gleich sein Handy, um die schönen Blüten zu fotografieren. Ich warf ein: „Das ging aber schnell.“

Blühen Kirschen rosa?

Am kommenden Morgen ging der erste Blick meines Mannes zur Fensterbank. Ob denn schon eine weitere Blüte gekommen ist? Vorsichtig bemerkte ich, dass die anderen Zweige sehr verschlossen aussehen und auch kleiner sind als der Zweig mit den offenen feinrosa Blüten. Ich wies meinen Liebsten dann auch auf die Farbe der Blüte hin: „Ist das wirklich ein Kirschzweig. Sieht so anders aus…?“ 

Da antwortete mein Mann, dass er ja nun die Zweige mit eigenen Händen abgeschnitten habe und es eben Kirschen sind. Was ist wirklich? Was ist wahr?

Wie weit trägt eine vorgefasste Meinung?

Spätestens jetzt hätte ich sagen sollen, dass der blühende Zweig ein Kuckucksei ist. Aber ich ließ das Spiel weiterlaufen, weil ich sehen wollte, wie weit eine vorgefasste Meinung trägt. „Mit eigenen Händen“, hatte mein Mann gesagt, und noch überlegt,  ob sich hier eine Kreuzung vollzogen hat. Mein kluger Mann sagte noch: Manchmal blühen Kirschen auch anders und vielleicht ist es der Klimawandel.“

Selbst als ich mit einer Pflanzenerkennungs-App den Zweig eindeutig als Zierquitte identifizierte, war er sicher, dass die App fehlerhaft ist. Drei Tage lang freute er sich an dem schönen Zweig und bedachte auch die Kirschzweige mit genauem Blick. Am vierten Tag wurde es mir etwas mulmig und ich sann auf Aufklärung, - in diesem Fall aus der fremd verschuldeten Unmündigkeit.

Der Unterschied zwischen Schein und Sein

Ich beichtete meinem Mann den Quittenzweigkauf und entschuldigte mich -ein bisschen- für meine Hinterlist. Mit viel Lachen sinnierten wir dann beide über unsere manchmal gehaltenen Augen, die menschliche Erkenntnis im Allgemeinen und unsere im Besonderen, über den Unterschied zwischen Schein und Sein. Und unsere Dickköpfigkeit, an etwas festzuhalten, was wir uns einmal in den Kopf gesetzt hatten. Manchmal dauert es eben mit der Wahrheit, aber sie lohnt sich zu finden!

Das Foto zeigt übrigens eine Quittenblüte :)

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