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Gott eine Wohnung geben
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Gott eine Wohnung geben

Ein Beitrag von Dr. Christine Lungershausen, Evangelische Pfarrerin, Eschborn
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„Wo ist Gott in der Ukraine? Im Krieg brauchen die Menschen Gott doch besonders?“ Das hat mich einer meiner Schüler in der Grundschule gefragt. Wir reden über Streiten und Krieg und Frieden. Ich habe nur stockend geantwortet. Es fällt mir schwer, Worte zu finden. Ganz sicher hat er Recht. Die Menschen dort brauchen Gott besonders.

Gott steht auf der Seite der Opfer

Wo Gott nicht ist, weiß ich leichter zu sagen. Im Kreml ist Gott nicht. So glaube ich. Gott steht auf der Seite der Opfer von Gewalt, bei den Überfallenen, bei den Schwachen. Ich erwarte, Gott bremst die Allzu-Mächtigen und Irrsinnigen, gebietet ihrem Morden Einhalt. Wenn wir Menschen es schon nicht können.

"Wo aber ist Gott in der Ukraine?"

Wie alle Menschen, die mit Gott rechnen, wünsche auch ich mir, dass Gott für Frieden und Gerechtigkeit sorgt. Schließlich hat Gott die Welt geschaffen und ist irgendwie auch verquickt mit dem, was passiert. Aber ich glaube nicht, dass Gott für diesen Krieg und seine Brutalität verantwortlich ist. Wo aber ist Gott in der Ukraine?

Etty Hillesum und ihr religiöses und philosophisches Tagebuch

Ich suche und finde etwas bei Etty Hillesum. Sie war eine junge Frau, die viele Tagebücher und Briefe hinterlassen hat. Sie wurde neunzehnhundertdreiundvierzig in Auschwitz ermordet. Sie war eine Sucherin und vor allem eine, die die Sehnsucht trieb. Die junge jüdische Studentin aus den Niederlanden schrieb eine Art religiöses und philosophisches Tagebuch. Etty Hillesum lebte in einer engen Verbindung zu Gott. Aber in dem, was ihr widerfuhr, war Gott kaum zu finden. Sie wurde zu Tode gebracht, als sie nur 29 Jahre alt war.

Gott in sich Raum geben

Etty Hillesum glaubte: Gott ist in der Welt, aber nicht wie ein Gegenstand. Sie glaubte: Menschen können Gott in sich Wohnung geben. Gott in sich selbst Raum zu geben, das gibt ihr innere Gewissheit, Gott in sich wohnen zu lassen, mitten in jener Welt, in der Menschen morden und Gewalt üben.

"... ein Stück von dir in uns selbst zu retten, Gott"

Etty Hillesum schrieb einmal eine Art Gebet an Gott: „Nur dies eine wird mir immer deutlicher: dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen, und dadurch helfen wir uns letzten Endes selbst. Es ist das einzige, auf das es ankommt: ein Stück von dir in uns selbst zu retten, Gott. Und vielleicht können wir mithelfen, dich in den gequälten Herzen der anderen Menschen auferstehen zu lassen.“

Eine tiefe Glaubensgewissheit

Über diese Zeilen von Etty staune ich. Was für eine Glaubensgewissheit! Was für ein Heldinnenmut! Etty Hillesum blieb auch im Widrigsten mit Gott verbunden. Sie hat Gott in sich eine Wohnung gegeben.

Ich will das glauben können: Dass Gott auch in den Menschen in der Ukraine sein kann. Dass Gott sich dort Wohnung nimmt, sie stärkt, mit ihnen an der Brutalität leidet, mit ihnen stirbt – und hoffentlich mit ihnen aufersteht.

Gott, gib dem Herzen Frieden

Ob ich in einer solchen Situation die Kraft hätte zu diesem tiefen Glauben wie Etty Hillesum – das weiß ich nicht. Gott in mir Wohnung geben – das würde heißen: Gott durchströmt mich und andere Menschen mit seiner Kraft. Gibt dem Herzen Frieden. Ausblick ins Weite. Darauf hoffe ich.

 

Nachweis Zitat: Etty Hillesum, Das denkende Herz, Briefe und Tagebücher. Erschienen in Deutschland 1985, S. 149

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