Dem Leben eine andere Richtung geben
„Wenn dein Boot, seit langem im Hafen vor Anker, dir den Anschein einer Behausung erweckt, wenn dein Boot Wurzeln zu schlagen beginnt in der Unbeweglichkeit des Kais: Such das Weite. Um jeden Preis müssen die reiselustige Seele deines Bootes und deine Pilgerseele bewahrt bleiben.“ Helder Camara schrieb das, der vor zwei Jahren verstorbene brasilianische Bischof. Ich habe diesen Text zum ersten Mal vor vierzig Jahren gehört. Damals machte ich eine Ausbildung als Bauzeichner in einem Architekturbüro. Irgendwie habe ich gespürt, dass ich in diesem Beruf nicht glücklich werden würde.
Ich spürte die Sehnsucht nach etwas anderem
Ich spürte eine starke Sehnsucht, etwas aus meinem Leben zu machen, was meinen Neigungen entsprach. So fuhr ich auf Orientierungstage ins Limburger Priesterseminar und habe mich mit der Frage beschäftigt, ob ich nicht besser Seelsorger werden sollte. Franz Kamphaus war damals als junger Bischof gerade mal ein paar Jahre in Limburg - und er hat mich fasziniert. Für mich hat er ein modernes Christentum verkörpert. Und so habe ich seine Bücher gelesen und seinen Predigten gerne zugehört. Jugendliche wie ich konnten an den Bischof Briefe schreiben. Daraus ist ein Buch entstanden, in dem Franz Kamphaus jungen Menschen wie mir damals geantwortet hat. Es heißt ganz schlicht: Briefe an junge Menschen. In diesem Buch stand das Gedicht von Helfer Camara. „Suche das Weite. Um jeden Preis müssen die reiselustige Seele deines Bootes und deine Pilgerseele bewahrt bleiben.“ Ich habe mich damals entschieden, aus meinem bisherigen Beruf auszusteigen und mit dem Theologiestudium begonnen. Für mich war es genau das, was der Text sagt: „Suche das Weite.“ In der Zeit meines Zivildienstes habe ich nochmal über alles nachgedacht, aber dann habe ich die Segel in Richtung Philosophie und Theologie gesetzt. Das war für mich Freiheit. Es war genau das, was ich wollte.
Momente im Leben, wo man die Richtung ändert
Seit fast dreißig Jahren bin ich nun Seelsorger in der katholischen Kirche. Ich habe meinen Beschluss nie bereut. Ich habe aber auch nie den Mut vergessen, den es mich damals gekostet hat, meinen alten Beruf aufzugeben. Erwartungen meiner Eltern zu enttäuschen und neu anzufangen. Der Text von Helder Camara erinnert mich daran: Immer wieder gibt es im Leben Momente, wo ich eine Entscheidung treffen und meine Segel in einen anderen Wind lenken muss. Die Entscheidung für die Ehe, die Entscheidung für ein Kind sind für mich auch solche Momente gewesen.
Wo ist Weite, wo ist Freiheit, wohin will ich?
Immer geht es für mich bei solchen Entscheidungen darum, Weite zu spüren. Ich frage mich dann: Wo bleibe ich einfach nur stehen, wo bin ich vielleicht schon an ein Ende gekommen. Wo ist nur noch Resignation oder Tod. Und im Gegenzug frage ich mich: Wie kann mein Leben eine neue Dynamik bekommen, wie kann ich mehr derjenige sein, der ich gern sein möchte, was macht mein Leben reicher. Wo ist Weite, wo ist Freiheit, wo lockt mich neues Leben. Auch wenn diese Fragen vielleicht nicht so oft kommen im Leben: Geholfen hat mir bisher immer dieses Bild mit dem Boot, das seine Segel in den Wind setzt.