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175 Jahre Paulskirche - Die Demokratie in Deutschland feiert Geburtstag
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175 Jahre Paulskirche - Die Demokratie in Deutschland feiert Geburtstag

Dr. Matthias Viertel
Ein Beitrag von Dr. Matthias Viertel, Evangelischer Pfarrer, Kassel
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Sprecherin der Zitate: Karmen Mikovic

 

Frankfurt im Mai vor 175 Jahren. Zum ersten Mal in Deutschland tritt eine gewählte Nationalversammlung zusammen. Das war sozusagen die Geburtsstunde der Demokratie in Deutschland. Das erste gesamtdeutsche Parlament tagt in der Paulskirche – der seinerzeit größte und modernste Saal in Frankfurt. Die Delegierten beschließen Grundrechte, die damals revolutionär waren:

Musik: Intro aus: Franz Schubert, Muth! (Thomas Quasthoff, Bariton und Daniel Barenboim, Klavier)

„Die Freiheit der Person ist unverletzlich, die Wohnung ist unverletzlich, das Briefgeheimnis ist gewährleistet. Jeder Deutsche hat das Recht, durch Wort, Schrift, Druck und bildliche Darstellung seine Meinung frei zu äußern. Die Preßfreiheit darf unter keinen Umständen … beschränkt, suspendirt oder aufgehoben werden. Es steht einem jeden frei, seinen Beruf zu wählen und sich für denselben auszubilden, wie und wo er will.“[1]

Musik: Intro aus: Franz Schubert, Muth! (Thomas Quasthoff, Bariton und Daniel Barenboim, Klavier)

Freiheit der Person, Briefgeheimnis, Meinungsfreiheit! - Heute selbstverständlich

Das sind nur einige der Grundrechte der Bürger, die in der Frankfurter Paulskirche formuliert worden sind. Auf uns heute wirken sie wie selbstverständlich, weil wir uns an diese Rechte gewöhnt haben. Aber damals war es eine Sensation: Freiheit der Person, Briefgeheimnis, Meinungsfreiheit! Und das nicht nur für privilegierte Kreise, sondern für alle gleichermaßen, für Männer wie für Frauen, allerdings wurde sowohl das aktive wie auch das passive Wahlrecht für Frauen noch nicht einmal diskutiert.

Erstmals sollten die Rechte für alle Bürger formuliert werden

Aufgabe der Nationalversammlung war es, eine allgemeine Verfassung zu erarbeiten und erstmals Rechte für alle Bürger zu formulieren. Für die Abstimmung über diese Verfassung war ein Parlament gewählt worden, und zwar in freier Wahl. Auch dieser erste Schritt in eine bürgerliche Gesellschaft war noch stark von alten Zwängen bestimmt. So konnten beispielsweise ausschließlich Männer wählen und gewählt werden.[2] Die Frauen waren offiziell zwar ausgeschlossen, aber in privaten Salons diskutierten sie mit und nahmen teil an dieser großen politischen Umwälzung.

Ein Demoktatie-Jubiläum

An diesem Wochenende, hundertfünfundsiebzig Jahre später, findet in Frankfurt ein großes Fest zum Jubiläum in der Paulskirche statt. Ein Demokratie-Jubiläum. Da lohnt es sich genauer hinzuschauen: Was waren das für Menschen, die damals das Zusammenleben in Deutschland so grundlegend verändern wollten? Und: Die Nationalversammlung fand in einer Kirche statt, in der Paulskirche. Welche Rolle spielten die Kirchen?

Die Mehrheit der Teilnehmer waren Juristen

Die Zusammensetzung des ersten frei gewählten Parlaments ist durchaus interessant: Die Mehrheit bestand aus Juristen. Daneben gab es auch ein paar, die nicht direkt in das Schema passten, aber auf Grund ihres guten Rufs in die Versammlung gewählt worden waren: Darunter der Insektenforscher Hermann Loew, der Kunsthistoriker Eduard Melly und der Literaturwissenschaftler Jacob Grimm, der durch seine Märchensammlung so bekannt geworden ist.

Auch ein Handwerker war dabei

Eine Besonderheit stellte der Schlossermeister Ferdinand Nägele dar. Er gehörte zu den wenigen Handwerkern, die es in das hohe Gremium geschafft hatten. Angetreten war er unter dem Slogan: „Nicht Doktors, nicht gelehrte Geister, wir wählen einen Schlossermeister!“ Seine Strategie war erfolgreich, er wurde in das Parlament gewählt.

50 Theologen gehörten zur Nationalversammlung

Noch etwas anderes fällt auf, wenn man die Liste der Abgeordneten genauer betrachtet, nämlich die Zahl der Theologen. Immerhin 50 Geistliche gehörten der Nationalversammlung an, 17 von ihnen waren Protestanten und 33 – also fast doppelt so viel – Katholiken. 50 Theologen bei einer Gesamtzahl von 585 Abgeordneten, das ist viel. Im heutigen Bundestag, obwohl der größer ist, sitzen nur noch zwei Pfarrer.[3]

Bei der Nationalversammlung 1848 hatten die Geistlichen eine starke Stimme. Aber was waren das für Personen? Und warum waren gerade sie gewählt worden?

Musik:: Robert Schumann, Album für die Jugend op. 86, No. 42 Figurierter Choral  (Jörg Demus, Klavier)

Die Grundsteinlegung der Demokratie fand in einer evangelischen Kirche statt 

175 Jahre Paulskirche. Es ist schon etwas Besonderes, dass diese Grundsteinlegung der Demokratie in einer evangelischen Kirche stattfand, auch wenn die Paulskirche für diesen Zweck umdekoriert worden war. Vor den Altar hatte man eine Fahne mit dem Reichsadler angebracht. Die Orgel war verhüllt. Viel wichtiger aber war, dass sich christliche Werte in den Entscheidungen niedergeschlagen haben. Die katholischen Priester und evangelischen Pfarrer, die in die Nationalversammlung gewählt worden waren, haben ihren Einfluss geltend gemacht.

Die Theologen waren aufgrund ihres persönlichen Engagements gewält worden, nicht weil sie Geistliche waren

Wer die Biographien dieser Personen genauer betrachtet, merkt schnell: Ein großer Teil von ihnen war weniger als Abgesandte der Kirchen geschickt worden, sondern hat vielmehr auf Grund eines persönlichen Engagements Beachtung in der Bevölkerung gefunden. Es waren abenteuerliche Typen mit zum Teil sehr verrückten Lebensläufen. Fünf von ihnen stelle ich Ihnen vor.

August Friedrich Gfrörer

Da war zum Beispiel August Friedrich Gfrörer aus Württemberg. Er war protestantischer Theologe und hat sich sein Leben lang für eine Überwindung der Gräben zwischen Katholiken und Protestanten ausgesprochen. Er beantragte in der Frankfurter Paulskirchen-Versammlung ganz formell die Wiedervereinigung der Konfessionen in Deutschland und die Zusicherung, dass Jesuiten sich niemals in Deutschland niederlassen dürften. Allerdings fand er mit diesen Anträgen kein Gehör. Schließlich konvertierte er zusammen mit seiner Familie zur katholischen Kirche.

Christoph Hoffmann

Und dann war da Christoph Hoffmann. Ebenfalls ein evangelischer Theologe, der von einem großen Bedürfnis der Vereinigung der zersplitterten deutschen Länder geleitet wurde. Schon in jungen Jahren hatte er als schwäbischer Pietist eine Templer-Gesellschaft gegründet. Templer sind im 19. Jahrhundert eine geistliche Bewegung in der lutherischen Kirche Württembergs. Hoffmann wollte mit seiner Templer-Gesellschaft Juden und Christen wieder zusammenführen, um das Gesetz Moses zu erfüllen. Er forderte 1854 alle ernsthaften Christen dazu auf, nach Palästina auszuwandern. In der Nationalversammlung setzte er sich in mehreren starken Reden für die Trennung von Staat und Kirche ein und für die Unabhängigkeit der Schulen. Maßstäbe, die uns heute selbstverständlich erscheinen, aber damals in der Paulskirche heftig umstritten waren. Frustriert und vor allem vom Widerstand der katholischen Abgeordneten enttäuscht, wanderte Christoph Hoffmann mit seiner Familie aus und gründete in Palästina eine deutsche Kolonie.

Direkt aus dem Gefängnis in das Parlament

Manche der geistlichen Abgeordneten in der Paulskirche kamen sozusagen direkt aus dem Gefängnis in das Parlament. Sie waren in den Burschenschaften engagiert und deshalb verhaftet und eingekerkert worden, denn die Burschenschaften waren eine treibende Kraft bei der Revolution von 1848. Kein Wunder, dass gerade sie sich als Angeordnete im Parlament besonders stark für die Rede- und Pressefreiheit einsetzten, hatten sie doch selbst die Gewalt der Zensur zu spüren bekommen.

Musik: Die Gedanken sind frei (Nils Landgren, Capella de la Torre, Knabenchor Hannover & Jeanette Köhn)

Ignaz von Döllinger

Unter den katholischen Abgeordneten in der Frankfurter Paulskirchen-Versammlung von 1848 ragt Ignaz von Döllinger hervor. Seine Laufbahn ist wirklich atemraubend: Er war Priester, Professor für Kirchenrecht und Religionsphilosophie, promovierte als Jurist und wurde Rektor der Universität München. Trotzdem wurde auch er in seinem Auftreten gemaßregelt. 1847 musste er wegen einer offenen Kritik am bayerischen König alle Tätigkeiten in seinem Lehramt ruhen lassen. Ein hochdekorierter Vertreter der katholischen Kirche, der aber 1871 sogar exkommuniziert wurde. Er wollte das Dogma der Unfehlbarkeit des Papstes nicht anerkennen, aber trotzdem seine Kirche nicht freiwillig verlassen. In der Frankfurter Paulskirche hat Döllinger die These von der Freiheit der Kirche gegenüber dem Staat vertreten. Wir verdanken auch ihm die Trennung zwischen Staat und Kirche.

Melchior Ferdinand Joseph Diepenbrock

Ein anderer Vertreter der katholischen Kirche, der auf keinen Fall übergangen werden darf, war Melchior Ferdinand Joseph Diepenbrock. Er war zum Priester geweiht worden, stieg auf der Karriereleiter zum Fürstbischof in Breslau auf und wurde sogar Kardinal. Und doch kannte man ihn in erster Linie als Verfasser von schöngeistigen Schriften. Die Position, die er im Parlament und in den Debatten um die Verfassung und die Bürgerrechte einnahm, verdeutlicht weder ein Traktat noch eine Predigt, sondern ein Gedicht. Diepenbrock hat es in einer Gedichtsammlung veröffentlicht, der er den illustrativen Titel „Geistlicher Blumenstrauß aus christlichen Dichter Gärten“ gab. Das Gedicht heißt: Der König als Bauer. Vier Strophen, die ein ganzes politisches Programm beinhalten. In dem Gedicht stehen sich nicht mehr die Stände gegenüber, von einem unüberwindbaren Graben getrennt. Stattdessen mischt sich der König direkt unter seine Untertanen, ja fühlt selbst wie ein Bauer:

Der König als Bauer                    

Daß im bäurischem Gewande
durch das Dorf der König geht,
staunet nicht, wenn ihr es seht:
Wißt, er liebet hier auf dem Lande.

Eine Bäu’rin, jung und schön
hält in Liebe ihn gefangen,
arm zwar und schwarzbraun von Wangen,
dennoch lieblich anzuseh’n.
D’rum nimmt’s euch nicht Wunder, gelt
daß im schlechten Bau’rsgewande
sich der König wohlgefällt:
Ist sein Liebchen ja vom Lande!

Fragt ihr, wer im Dorfe nur
diese sei, die so gehret,
s erhoben worden? – Höret:
Sie heißt menschliche Natur.

Und damit ihr alles wißt,
(denn sonst wüßtet ihr noch wenig)
sag‘ ich euch, daß dieser König,
der als Bauer sich gefällt,
aller Himmel König ist,
Gottes Sohn, Herr Jesus Christ;
und das Dorf ist diese Welt.[4]

Der König und der Bauer sind gleich gestellt. Das Gedicht begründet diese Gleichheit der Menschheit mit der Haltung Jesu. Jesus ist Vorbild aller, auch der Herrscher. Jesus Christus, Gottes Sohn, blieb nicht abgehoben im Himmel, sondern kam in die Welt, lebte als Mensch unter Menschen. Der Glaube an Jesus Christus begründet die politische Botschaft: Ein König tut gut daran, die Menschheit in jeder und jedem zu achten.

Wilhelm Smets

Politische Ansichten in schöngeistige Literatur verpacken konnte auch Wilhelm Smets. Er ist der fünfte und letzte von den Geistlichen in der Paulskirche, den ich hier vorstelle. Smets hatte katholische Theologie studiert, war zum Priester geweiht worden und kam im Alter von 52 Jahren in die Nationalversammlung in der Paulskirche. Wie so viele seiner Kollegen hatte auch er an den Befreiungskriegen gegen Napoleon teilgenommen und war sogar bis zum Leutnant aufgestiegen. Nach dieser Zeit eines militärischen Engagements fand er als Herausgeber der „Katholischen Monatsschrift zur Belehrung, Erbauung und Unterhaltung“ ein neues Betätigungsfeld. Auch er schrieb mehr Gedichte als Pamphlete und schuf sogar den Text zu einem Oratorium, in dem er die Könige Israels als Vorbild herausstellte. Das Oratorium des Abgeordneten Wilhelm Smets ist dann von dem Komponisten Ferdinand Ries vertont worden. Wir hören hinein in eine Arie.

Musik: Nicht mein war Kraft und Sieg,  Arie aus: Ferdinand Ries, Die Könige in Israel op. 186 (Rheinische Kantorei & Das Kleine Konzert unter Hermann Max)

"Gegen Demokraten helfen nur Soldaten."

Auf der politischen Ebene ist die Revolution von 1848 gescheitert. Auch die Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche blieb ein Versuch, demokratische Strukturen durchzusetzen. Schon ein Jahr später erfolgte die Gegenreaktion und die Abrechnung mit den Demokraten der Paulskirche. Der preußische König Friedrich Wilhelm IV. prägte den verhängnisvollen Satz: „Gegen Demokraten helfen nur Soldaten.“ Und genauso verhielt er sich auch. Viele der Abgeordneten mussten fliehen, einige kamen in Haft. Aber trotzdem war der Prozess nicht mehr aufzuhalten, die Bürgerrechte waren nun in den Köpfen.

Der Prozess war nicht mehr aufzuhalten, die Bürgerrechte waren nun in den Köpfen

Viele der bürgerlichen Grundrechte, die die Nationalversammlung in der Paulskirche formuliert hat, haben einen ihrer Ursprünge im christlichen Glauben. So etwa die Unantastbarkeit der Person. Einige damals vor 175 Jahren haben sie mit der Gottebenbildlichkeit des Menschen begründet. In der Bibel steht: Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde. Jeder Mensch ist ein Bild Gottes, nicht nur Fürsten und Könige. Niemand ist einfach nur Untertan, über den die Oberen bestimmen. Alle Menschen sind von Gott geachtet. Melchior von Diepenbrock, Theologe und Abgeordneter in der Paulskirche, hat das so ausgedrückt:

„Ihr Könige, Machthaber und Obrigkeiten! Trachtet vor Allem nach Gottes Gerechtigkeit und machet sie in Wahrheit zum Fundament und Richtscheit euerer Herrschaft. Vergesset nicht, dass Gottes edelste … Geschöpfe nicht deshalb nur auf dieser Erde leben, um von euch beherrscht oder gar zum Fußschenkel eurer selbstsüchtigen Hoffart mißbraucht zu werden, sondern vielmehr um unter dem Schutze weiser, milder Gesetze, deren gerechte Handhabung und deren Vervollkommnung der Gegenstand eurer Nachtwachen sey … Fördert also nach Kräften diese Entwicklung, und setzet den Geist über die rohe Gewalt! Achtet die Freiheit der Gewissen, denn Gott selbst achtet sie!“[5]  

Es wurden auch die bis heute geltenden Regeln zur Religionsausübung festgelegt

Noch etwas anderes folgte auf diese Versammlung in der Paulskirche. Die so zahlreich vertretenen Theologen übertrugen die demokratischen Ideen nun auch auf die Strukturen der Kirchen. Immerhin waren neben den Bürgerrechten wie Presse-, Meinungs-, Versammlungsfreiheit und der Abschaffung der Todesstrafe auch die bis heute geltenden Regeln zur Religionsausübung festgelegt. Dass es in Deutschland eine volle Glaubens- und Gewissensfreiheit gibt und niemand verpflichtet ist, seine religiöse Überzeugung zu offenbaren, ist eben dieser Nationalversammlung zu verdanken, die vor 175 Jahren in der Frankfurter Paulskirche zusammentrat.[6] Die demokratischen Organisationsformen in den evangelischen Kirchen haben hier Schubkraft bekommen. Synoden als Parlamente kirchlicher Selbstverwaltung gab es schon vorher. Aber seit der Versammlung in der Paulskirche sind demokratische Strukturen weder in der Politik noch in der Kirche wegzudenken. Zugleich erinnert das Scheitern der Nationalversammlung daran, wie gefährdet die Demokratie ist. Wir müssen immer wieder um sie ringen.

Musik: „So lasset Trompeten schmettern“ (Chor) oder: Introduktion. Ferdinand Ries: Die Könige in Israel

 


[1] Verfassung des Deutschen Reiches vom 28. März 1849 (Paulskirchenverfassung www.documentarchiv.de/nzjh/verfdr1848.htm

[2]www.bundestag.de/parlament/geschichte/parlamentarismus/1848

[3] Pfarrer sind: Pascal Kober FDP, Michael Stübgen CDU.

[4] Melchior von Diepenbrock, Geistlicher Blumenstrauß aus christlichen Dichter Gärten, Sulzbach 1852 S. 159f.

[5] Melchior von Diepenbrock, die Zeichen der Zeit, Regensburg 1841. S. 21f.

[6] Verfassung des Deutschen Reiches vom 28. März 1849, Artikel V §144.

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