Schritt für Schritt herantasten
Liebe Hörerinnen und Hörer,
wer kennt es nicht? Das Sprichwort von den Fingern, die in die Wunde gelegt werden. Den Finger in die Wunde zu legen heißt, gezielt und kritisch etwas anzusprechen, vielleicht ein schwelendes Problem oder eine schmerzhafte Wahrheit. Was auch immer, es trifft einen wunden Punkt, vor dessen Freilegung man einen gewissen Horror haben kann. "Das Kind beim Namen zu nennen" – ein weiteres Sprichwort, das das gleiche meint. Das beinhaltet auch, den ganzen Mut zusammenzupacken und das eigene Herzklopfen zu überhören. Nein, manchmal muss es raus – manchmal kann man nicht mehr schweigen. Zu lange wurde vielleicht um den heißen Brei herumgeredet, zu lange weggeschaut. Was ist wirklich Fakt, was ist die Wahrheit? Es muss ans Tageslicht.
Der "ungläubige" Thomas
So muss es auch dem Apostel Thomas gegangen sein, von dem in den katholischen Kirchen an diesem Sonntag im Evangelium nach Johannes die Rede ist.
Am Abend dieses ersten Tages der Woche, als die Jünger aus Furcht vor den Juden bei verschlossenen Türen beisammen waren, kam Jesus, trat in ihre Mitte und sagte zu ihnen: Friede sei mit euch! Nach diesen Worten zeigte er ihnen seine Hände und seine Seite. Da freuten sich die Jünger, als sie den Herrn sahen. Jesus sagte noch einmal zu ihnen: Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch. Nachdem er das gesagt hatte, hauchte er sie an und sagte zu ihnen: Empfangt den Heiligen Geist! Denen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen; denen ihr sie behaltet, sind sie behalten. Thomas, der Dídymus genannt wurde, einer der Zwölf, war nicht bei ihnen, als Jesus kam. Die anderen Jünger sagten zu ihm: Wir haben den Herrn gesehen. Er entgegnete ihnen: Wenn ich nicht das Mal der Nägel an seinen Händen sehe und wenn ich meinen Finger nicht in das Mal der Nägel und meine Hand nicht in seine Seite lege, glaube ich nicht.
Musik: J. S. Bach - "Sarabande" aus der Orchester-Suite h-moll BWV 1068
Thomas erscheint zunächst alles merkwürdig, ja zu unglaubwürdig, was die anderen Jünger ihm erzählt haben: Sie haben den Herrn gesehen! Den Herrn Jesus, der noch wenige Tage zuvor auf grausame Weise am Kreuz gestorben ist und begraben wurde. Kann das sein? Wie kann man jemanden sehen, der gestorben ist? Thomas, der bei der Begegnung des auferstandenen Jesus mit den anderen Jüngern nicht dabei war, kann das einfach nicht glauben. Das hat ihm bis heute den Namen "der ungläubige Thomas" eingebracht. Das klingt schon heftig. Als wäre er mit einer einzigen kritischen Frage und Forderung vom Glauben zum Unglauben gekommen. Er sagt ja nicht, dass die übrigen Jünger die Unwahrheit gesagt haben. Er fragt nur etwas, was viele in seiner Situation fragen würden, und schon bekommt er einen Stempel aufgedrückt. Die anderen Jünger, die schon sehen konnten, was Thomas nicht konnte, nämlich den auferstandenen Herrn, scheinen fromm und gläubig zu sein. Irgendwie wirkt Thomas wie das schwarze Schaf. Alle sind gut, nur er ist es nicht.
Fast unglaublich
Sind nicht alle mal mehr oder weniger ein ungläubiger Thomas? Und ist das nicht gut so? Wer will schon anderen schnell auf den Leim gehen, immerhin sind wir aufgeklärte Menschen, die sich ihr Urteil selbst machen können. Und anderen einfach so mal was zu glauben, was unmöglich erscheint, das geht nun wirklich nicht. Wer will sich schon einen Bären aufbinden lassen? Und dann auch noch, wenn es wirklich um Leben und Tod geht. Nein, man kann sich gut reindenken in diesen Thomas. Als Jünger ist er Jesus von Nazareth nachgefolgt. Er hat seine Botschaft vom Reich Gottes gehört und geglaubt und in Jesus den verheißenen Messias gesehen. Mit eigenen Augen hat er gesehen, wie Jesus Wunder gewirkt hat. Und er war auch dabei, als Jesus seinen schrecklichen Tod und seine Auferstehung vorausgesagt hat. Ein Toter soll wieder leben, auf ewig leben! Sicher, Thomas hat diese Botschaft gehört, sie sicher im tiefsten Inneren auch gewünscht. Aber dass Jesus wirklich auferstanden ist, kann man das so einfach glauben? Es ist verständlich, wenn er da zweifelt. Schließlich war noch niemals jemand nach seinem Tod zurückgekommen auf diese Welt. Das ist so sensationell, dass dafür alle Worte fehlen.
Hoffnung ist stärker als Zweifel und Vernunft
Christen leben aus dem Glauben an das ewige Leben bei Gott. So wie Jesus Christus am dritten Tag auferstanden ist, so sind auch sie zum ewigen Leben bei Gott berufen. Vor einer Woche am Osterfest haben Christen diesen Sieg des Lebens über den Tod gefeiert. Es ist das Größte, das man überhaupt feiern kann. Aber an dieser Botschaft vom Leben zweifeln auch heute noch Menschen, vielleicht mehr denn je; für sie ist mit dem Tod alles aus und vorbei. In das Leben hier und jetzt muss alles reingepackt werden. Und wenn der Tod eintritt, dann lebt der oder die Verstorbene nur weiter in der Erinnerung der Zurückgebliebenen. Oder doch nicht? Ich meine, auch bei den Zweifelnden bleibt so etwas wie eine kleine Resthoffnung bestehen, auch wenn sie noch so utopisch scheint. Eine Hoffnung auf ein Wiedersehen mit den Lieben. Diese Hoffnung, so beobachte ich es, ist stärker als der Zweifel und alle Vernunft. Vielleicht ging es ja Thomas ähnlich. Er wollte glauben, dass Jesus auferstanden ist. Vielleicht hat er es im Herzen kapiert, aber er konnte es sich einfach nicht vorstellen. Wie geht es mit dem Evangelium weiter?
Acht Tage darauf waren seine Jünger wieder drinnen versammelt und Thomas war dabei. Da kam Jesus bei verschlossenen Türen, trat in ihre Mitte und sagte: Friede sei mit euch! Dann sagte er zu Thomas: Streck deinen Finger hierher aus und sieh meine Hände! Streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite und sei nicht ungläubig, sondern gläubig! Thomas antwortete und sagte zu ihm: Mein Herr und mein Gott! Jesus sagte zu ihm: Weil du mich gesehen hast, glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben. Noch viele andere Zeichen hat Jesus vor den Augen seiner Jünger getan, die in diesem Buch nicht aufgeschrieben sind. Diese aber sind aufgeschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben Leben habt in seinem Namen.
Musik: J. S. Bach aus der Kantate BWV 67 - "Friede sei mit euch"
Was macht Jesus? Wie geht er mit dem zweifelnden Thomas um? Er macht ihm überhaupt keine Vorwürfe, Jesus geht ganz und gar auf ihn ein. Er, der auferstandene Messias, kommt plötzlich zu den Jüngern und wünscht Frieden. Er bringt Frieden, keinen Zwist, keine Auseinandersetzung. Einen Frieden, der aus der Fülle der Barmherzigkeit und des Lebens kommt. Einen Frieden, den die Welt nicht geben kann. So begegnet er dem ungläubigen Thomas. Der Auferstandene ist "Wirklichkeit"“, aber ihn umgibt auch das, was wir vielleicht kindlich Himmel nennen. Er lebt hier, aber auch ganz woanders. "Mach nur, was du dir wünschst", so könnte Jesus zu Thomas sagen. "Ich habe kein Problem damit, berühre nur meine Wunden." Aber so weit kommt es nicht. Der Zweifel verstummt nicht durch das Ertasten der Wunden, er verstummt in der Begegnung zwischen Mensch und Gott. Thomas spricht sein eigenes Glaubensbekenntnis. Es ist kurz und knapp: Mein Herr und mein Gott.
Eine neue Wirklichkeit
In der Begegnung mit dem auferstandenen Christus hat für ihn eine ganz und gar neue Wirklichkeit begonnen. Thomas hat das nicht mehr erfühlen müssen, indem er tatsächlich die Wunden Jesu betastet. Er hat es blitzartig mit Herz und Kopf verstanden, es fällt ihm wie Schuppen von den Augen: Er erkennt in Jesus nicht nur den irdischen Menschen, er erkennt den Messias, den Sohn Gottes, der von den Toten auferstanden ist. Vom Zweifeln kommt er zur Erkenntnis und schließlich von der Erkenntnis zum Bekenntnis.
Nun gut, so kann man sagen, die Jünger hatten allesamt einen besonderen Vorteil. Sie konnten wirklich dem auferstandenen Herrn begegnen. Wer kann das heute schon von sich sagen? Nach einer solchen Erfahrung muss man von Grund auf erschüttert sein und einfach sozusagen fast automatisch zum Glauben kommen. Jesus sagt ja auch selbst: "Weil du mich gesehen hast, glaubst du." Und weiter: "Selig sind die, die nicht sehen und doch glauben." Damit meint Jesus ganz umfassend alle anderen Menschen, die an ihn glauben. Dieses Wort des Herrn gilt bis heute.
Bei Gott ist Zweifeln erlaubt!
Was können Sie und ich aus diesem Evangelium mitnehmen in den Alltag, in das persönliche Glaubensleben? Wichtig ist: Bei Gott ist Zweifeln erlaubt! Er nimmt auch die ernst, die nicht oder nicht gleich glauben können. Gott zwingt nicht, er lädt ein. Er weiß: Jesu Tod und Auferstehung, die ganze Botschaft vom ewigen Leben bei Gott übersteigt eigentlich das menschliche Erfassen. Deshalb versteht er auch, wenn Menschen kleine, manchmal auch ganz kleine Schritte brauchen, um sich dieser Wahrheit zu öffnen. Zu diesen Schritten, zu diesem Prozess des Wachsens in den Glauben, darf eben auch gehören, ihn im wahrsten Sinne des Wortes nicht "begreifen" zu können. Ich denke da an den berühmten Theologen Karl Rahner, der einmal gesagt hat: "Glauben heißt, die Unbegreiflichkeit Gottes ein Leben lang auszuhalten." Das sagt ein Mann, der sein ganzes Leben auf diese eine Karte gesetzt hat: er hat sich als Ordensmann, als Jesuit, ganz der Nachfolge Christi verschrieben. Und auch er hatte Phasen, in denen er Gott wegen seiner Unbegreiflichkeit nur aushalten konnte. Und das darf sein und muss manchmal sein.
Spurensuche im eigenen Leben
Gott kann man nicht am Fassbaren, am Sichtbaren festmachen. Man kann ihn nicht sehen. Dennoch ist er da, dennoch umgibt er das Leben aller Menschen. Wie kann man unter den Bedingungen des Nichtsehens und Nichtberührens dennoch zum Glauben an ihn kommen? Ich meine, das gelingt durch eine Spurensuche im eigenen Leben und Denken. Wie ist das heute mit dem ewigen Leben? Hoffen manche Menschen nicht vielleicht gegen jede Vernunft darauf? Ist dieser Gedanke, diese Hoffnung nicht schon eine Glaubensspur, die weiterentwickelt werden kann? Es geht um das ganz tiefe und innere Verborgene, das man kaum ausspricht. Da schwirren Gedanken, Hoffnungsblitze und Sehnsüchte, die auf ein Mehr deuten. Auf das Mehr des Lebens bei Gott und das Wiedersehen mit unseren Lieben.
Musik:J. S. Bach aus der Kantate BWV 67 - "Halt im Gedächtnis Gottes Sohn"
Für mich gab es im Januar eine besondere Spur zum Glauben an das ewige Leben bei einer Reise durch Indien. Ganz eindrücklich war eine Begegnung mit den Missionaries of Charity, den Schwestern der hl. Mutter Teresa in Kalkutta. In dieser 15 Millionen Metropole leben und arbeiten die Schwestern unter widrigsten und ärmlichsten Bedingungen im Dienst an den Armen auf der Straße. Warum tun sie das? Eine kleine Episode macht es deutlich: ein amerikanischer Journalist hat Mutter Teresa einmal beobachtet, wie sie einem Sterbenden die Geschwüre gereinigt und ihn umsorgt hat. Der Journalist war darüber wohl regelrecht angeekelt; er konnte sich nicht vorstellen, es Mutter Teresa gleichzutun und hat gesagt: "Das würde ich nicht einmal für eine Million Dollar tun." Mutter Teresa drehte sich rum und sagte: "Ja, für eine Million Dollar würde ich das auch nicht tun." Was meint sie damit? Mutter Teresa hat mit diesem Satz eine Brücke in den Himmel geschlagen. Für sie, für alle Christinnen und Christen, ist das Leben hier auf der Erde nur eine Zwischenstation zum ewigen Leben bei Gott. Und weil Gott die Liebe ist, hat Mutter Teresa diese Liebe den Ärmsten weitergegeben. In ihnen hat sie, wie sie so oft gesagt hat, Christus berührt. Für sie war in den Armen auf Kalkuttas Straßen und Müllkippen Christus greifbar und sichtbar. Sie legte ihren Finger nicht in die Wunden, um zu erkennen; sie legte ihre Finger in die Wunden, um sie zu heilen.
Ein Stück vom Himmel
Es kann ein guter Weg sein, Christus in den Nächsten zu erkennen. In jedem Leben gibt es diese Augenblicke in Begegnungen, die ein Stück Himmel aufblitzen lassen und die verzaubern. Solche Spuren – sorgsam beachtet und im Herzen aufbewahrt – werden nach und nach zu einer Gewissheit des Herzens. Jesus Christus ist da, er sieht und liebt mich. Er ist gestorben und begraben worden, und am dritten Tag ist er auferstanden von den Toten. In die Auferstehung sind die Menschen mithineingenommen zum ewigen Leben.
Ich weiß, diese Botschaft klingt fast unglaublich. Aber sie ist die Quintessenz des christlichen Glaubens. An diese Botschaft, an Jesus Christus, kann man sich auch Schritt für Schritt heranTASTEN, begleitet vom Zweifel wie Thomas. Aber belohnt und überwältigt im Bekenntnis: Mein Herr und mein Gott.
Musik: J. S. Bach aus der Kantate BWV 67 - "Erschienen ist der herrlich Tag"
Musikauswahl: Regionalkantor Thomas Wiegelmann, Bad Orb