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Im Garten des Karfreitags
Bild: medio.tv / Aumann

Im Garten des Karfreitags

Tina Oehm-Ludwig
Ein Beitrag von Tina Oehm-Ludwig, Evangelische Pfarrerin, Versöhnungskirche-Matthäuskirche Fulda
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Es ist jedes Jahr das Gleiche: Irgendwann Anfang des Jahres treibt es mich in den Garten – bewusst oder unbewusst. Ich kann nicht anders. Ich muss dann einfach einmal nachschauen – nachschauen, ob es nicht schon etwas zu entdecken gibt: ein frisches Grün oder etwas Blühendes.

Ein Ausflug in den eigenen Garten

Irgendetwas, das zur Hoffnung Anlass gibt – zur Hoffnung darauf, dass der Frühling bald kommt und dem Winter mit seinem todesähnlichen Schlaf der Natur endlich ein Ende bereitet. Wenn bei meinem Ausflug in den Garten noch nichts zu sehen ist, wenn alles noch tief in der Erde schlummert, bin ich ziemlich enttäuscht. Werde ich jedoch fündig, dann atme ich auf – innerlich wie äußerlich. Vielleicht geht es Ihnen ähnlich.

Einladung in den Garten des Karfreitags

Ich lade Sie heute zu einem Ausflug in den Garten ein. Der Garten, den ich vor Augen habe, ist allerdings kein gewöhnlicher Garten, kein Nutz- oder Ziergarten. Er hat keine bestimmte Bepflanzung. Er ist auch nicht in einem besonderen Stil angelegt – etwas als Englischer oder Japanischer oder als Barockgarten. Der Garten, den ich vor Augen habe, ist der Garten des Karfreitags.

Musik: Antonio Vivaldi, Sinfonia h-moll “Al Santo Sepolcro” RV 169, I.: Adagio molto

Der Garten, in dem Jesu Passion beginnt

Ich lade Sie heute zu einem Ausflug in den Garten des Karfreitags ein. Nach dem Evangelisten Johannes beginnt der Leidensweg Jesu in einem Garten. Er endet auch in einem Garten. Johannes eröffnet seinen Passionsbericht mit den Worten:

„Als Jesus das geredet hatte, ging er hinaus mit seinen Jüngern über den Bach Kidron; da war ein Garten, in den gingen er und seine Jünger.“ (Joh. 18,1)

Dieser Garten, in den Jesus zu Beginn seines Leidensweges mit seinen Jüngern geht, ist kein Garten der Hoffnung. Er ist kein Garten, in dem ich am Ende des Winters nachschaue, ob schon etwas grünt und blüht. Er ist ein Garten des Verrats und der Gefangennahme. Jesus zieht sich mit seinen Jüngern dorthin zurück. Doch Judas verrät den Aufenthaltsort Jesu an dessen Feinde. Diese schicken daraufhin eine Schar von Soldaten los, die Jesus gefangen nehmen sollen.

Jesus stellt sich ihnen und ergibt sich kampflos. Auch seinen Jüngern verbietet er, ihn zu verteidigen. So führen die Soldaten Jesus ab.

Der Leidensweg Jesu endet auch in einem Garten

Wie bei dem Evangelisten Johannes der Leidensweg Jesu in einem Garten beginnt, so endet er auch in einem Garten. Nachdem Jesus am Kreuz gestorben ist, wird sein Leichnam vom Kreuz abgenommen und ins Grab gelegt. Johannes schreibt:

„Danach bat Josef von Arimathäa, der ein Jünger Jesu war, doch heimlich, aus Furcht vor den Juden, den Pilatus, dass er den Leichnam Jesu abnehmen dürfe. Und Pilatus erlaubte es. Da kam er und nahm den Leichnam Jesu ab. Es kam aber auch Nikodemus, der vormals in der Nacht zu Jesus gekommen war, und brachte Myrrhe gemischt mit Aloe, etwa hundert Pfund. Da nahmen sie den Leichnam Jesu und banden ihn in Leinentücher mit Spezereien, wie die Juden zu begraben pflegen.

Es war aber an der Stätte, wo er gekreuzigt wurde, ein Garten und im Garten ein neues Grab, in das noch nie jemand gelegt worden war. Dahin legten sie Jesus wegen des Rüsttags der Juden, weil das Grab nahe war.“ (Joh. 18,38-42)

Ein Garten des Abschieds

Dieser Garten, von dem der Evangelist Johannes am Ende seines Passionsberichtes erzählt, ist ebenfalls kein Garten der Hoffnung. Er ist ein Garten des Abschieds, der Trauer und des Todes. Wir sind im Garten des Karfreitags angekommen.

Musik: Johann Eccard, „Im Garten leidet Christus Not“ 

Jesus ist gestorben. Josef von Arimathäa und Nikodemus erhalten die Erlaubnis, den Leichnam Jesu vom Kreuz abzunehmen. In einem nahegelegenen Garten begraben sie ihn. Wir befinden uns im Garten des Karfreitags.

Ich wäre jetzt lieber in einem Sommergarten

Eigentlich wäre ich jetzt lieber in einem anderen Garten – in einem Garten, in den der Frühling gerade Einzug gehalten hat. Oder besser noch: in einem blühenden, sonnendurchfluteten Sommergarten mit üppigem, saftigem Grün und bunten, leuchtenden Blumen. Und in der Luft höre ich das leichte Summen und Brummen tierischer Betriebsamkeit und das fröhliche Plätschern kleiner Brunnen.

Der Garten des Karfreitags ähnelt einem Wintergarten

Der Garten des Karfreitags erinnert mich demgegenüber an einen winterlichen Garten. In ihm ist alles kahl. Das, was noch da ist, ist abgedeckt oder liegt unter Schnee und Eis verborgen. Eine eigentümliche Stille lastet auf ihm – eine Totenstille. In einem solchem Wintergarten halte ich mich nicht gern auf. Ich weiß zwar, dass er zum Jahreslauf hinzugehört. Ich habe auch eine Ahnung davon, was in ein paar Monaten wieder aus ihm hervorgehen wird. Aber bei seinem Anblick stelle ich mir immer die gleiche bange Frage: Wie soll das alles jemals wieder werden?

Der Sommergarten steht für die schönen Situationen des Lebens 

Mit einem Garten scheint es so wie mit dem Leben selbst zu sein. Auf der einen Seite ist der blühende, sonnendurchflutete Sommergarten, den ich so sehr liebe. Er steht für die Sommerseite des Lebens, das Leben in all seiner Schönheit und Buntheit. Wenn Menschen an ihren ganz persönlichen Sommergarten des Lebens denken, dann haben sie oft ihre Familie vor Augen: ihren Partner oder ihre Partnerin, ihre Kinder und Enkelkinder sowie alles, was die gemeinsame Zeit mit ihnen bunt und schön macht. Oder sie denken an ihren Beruf oder ein Ehrenamt, das sie ausüben. Die Arbeit bereitet ihnen Freude. Sie erfahren dabei Anerkennung und Wertschätzung. Sie spüren, dass sie mit ihren Fähigkeiten und Begabungen am richtigen Platz sind. Oder es ist ein besonderes Hobby, das den ganz persönlichen Sommergarten eines Menschen zum Blühen bringt. Es macht seinen Kopf frei und sein Herz weit. Es lässt ihn träumen.

Der Wintergarten steht für die dunklen Seiten des Lebens

Auf der einen Seite ist der blühende, sonnendurchflutete Sommergarten, die Sommerseite des Lebens, das Leben in all seiner Schönheit und Buntheit. Und auf der anderen Seite ist der kahle, eigentümlich stille Wintergarten, die Winterseite des Lebens. Oft ist sie mit einem Gefühl der Trostlosigkeit, mit Dunkel und mit Traurigkeit verbunden. Wir wissen zwar, dass auch diese Seite zum Leben dazugehört – so, wie es im Jahreslauf nicht nur den blühenden Sommergarten gibt. Aber dieses Wissen macht die Winterzeiten des Lebens nicht heller und leichter – schon gar nicht, wenn sie überraschend oder viel zu früh kommen. Schon gar nicht, wenn man mitten drinsteckt, wenn sie scheinbar endlos andauern und es kein noch so kleines Anzeichen des nahenden Frühlings gibt. Das Wissen um die Winterzeiten des Lebens beantwortet mir auch nicht die bange Frage, ob und wie das alles jemals wieder werden soll.

Helga im Wintergarten ihres Lebens

Helga ist gerade mitten im Wintergarten des Lebens. Sie hat die Diagnose Krebs bekommen. Es ist nicht aussichtslos, das nicht. Die Ärzte haben ihr Mut gemacht zu kämpfen. Ihre Familie sowieso. Daher hat sie zugestimmt: erst Operation, dann Chemotherapie. Die Behandlungen zeigen Wirkung. Es sieht eigentlich ganz gut aus. Aber trotzdem ist alles um sie herum so trostlos und grau. Es fühlt sich alles wie abgestorben an. Auch in ihr drin. Ihr ganzes Leben scheint wie unter einer dicken Decke aus Schnee und Eis begraben zu sein. Sie spürt es nicht mehr. Und obwohl sie oft traurig ist, ist ihr bislang noch keine einzige Träne gekommen.

Winter- und Sommergärten haben verschiedene Blüten

Wie die Sommergärten des Lebens verschiedene Blüten haben, so sehen auch die Wintergärten des Lebens ganz unterschiedlich aus. Bei der einen begräbt eine schwere Krankheit alles Leben unter sich, bei einem anderen ist es der Verlust des Arbeitsplatzes. Manchmal liegt das Leben auch unter den Trümmern einer zerbrochenen Liebe oder einer enttäuschten Hoffnung begraben.

Musik: Arvo Pärt, „Für Alina“ in h-moll

„Es war aber an der Stätte, wo Jesus gekreuzigt wurde, ein Garten und im Garten ein neues Grab. Dahin legten sie Jesus“, schreibt der Evangelist Johannes. Wir befinden uns im Garten des Karfreitags. Obwohl er mich an einen kahlen und kalten Wintergarten erinnert und ich jetzt lieber durch einen blühenden, sonnendurchfluteten Sommergarten gehen würde, will ich es heute in ihm aushalten.

Auch in meinem Lebensgarten gibt es Gräber

Während ich in Gedanken vor dem Grab Jesu in seiner Mitte stehe, wird mir schmerzlich bewusst, dass es auch in meinem ganz persönlichen Lebensgarten Gräber gibt. Es sind die Gräber der Menschen, die ich geliebt habe. Ihre Gräber sind zu einem Teil meines Lebens geworden – ich suche sie auf, ich pflege sie. Jahrein, jahraus. Nicht nur mein eigener Tod gehört zu meinem Leben dazu, sondern auch der Tod anderer Menschen. Auch andere fügen – mit ihrem Leben ebenso wie mit ihrem Sterben – Daten zu meiner Lebensgeschichte hinzu. Ob ich das möchte oder nicht. Diese Daten sind einfach da. Und sie bleiben.

Gräber, die durch Unglücke gegraben sind

Neben den Gräbern der Menschen, die ich geliebt habe, gibt es noch andere Gräber in meinem ganz persönlichen Lebensgarten. Manchmal erscheinen sie mir auf den ersten Blick weit weg und sind auf den zweiten doch so nah. Es sind Gräber, die Katastrophen, Unglücke und sinnlose Gewalt ins Leben graben. Von einem Moment zum anderen ist nichts mehr so, wie es war. Es ist nichts mehr so wie vor dem Unfall, vor dem Erdbeben oder der Flut, nichts mehr so wie vor dem Krieg. Von einem Moment zum anderen ist der Tod in das Leben von Menschen eingebrochen, und zwar mit einer Macht, die mich sogar in der Ferne erschrocken zurückweichen lässt. Die mir die Sprache verschlägt und mir ein Stück der Sicherheit nimmt, die ich zum Leben so dringend brauche.

Gräber, die ich selbst grabe

Manche Gräber in meinem ganz persönlichen Lebensgarten grabe ich mir auch selbst. Das ist mir klargeworden, als ich gelesen habe, dass das Wort „Grab“ und das Wort „grübeln“ sprachlich verwandt sind. Zuerst ergab das für mich keinen Sinn, doch dann habe ich begriffen: Wer grübelt, der ist wie einer, der immer an der gleichen Stelle gräbt. Er beschäftigt sich ständig mit den gleichen Sorgen, den gleichen Problemen, den gleichen Menschen. Im Garten würde er das nicht tun. Wer seinen Garten umgräbt, der geht nach jedem Spatenstich einen Schritt zur Seite, einen Schritt weiter. Denn ein zu tiefes Graben tut dem Garten nicht gut.

Wer grübelt, der rührt sich jedoch nicht vom Fleck. 

Wer grübelt, der rührt sich jedoch nicht vom Fleck. Der bleibt an genau der gleichen Stelle stehen und gräbt dort immer weiter und immer tiefer. Das kann durchaus einmal nötig sein – dann, wenn ich an etwas dranbleiben und einer Sache auf den Grund gehen will. Das kann aber auch gefährlich werden – dann nämlich, wenn ich nicht mehr weiß, wie ich mit dem Graben und Grübeln aufhören soll. Wenn das Loch, das ich grabe, so tief wird, dass ich nicht mehr allein herauskomme. Wenn es mir tatsächlich zum Grab zu werden droht. Es gibt vieles, in das ich mich eingraben kann, und es gibt vieles, das sich in mich eingraben kann: erlittene Niederlagen, schmerzliche Erinnerungen, geplatzte Träume, Angst vor der Zukunft.

Musik: J.S. Bach, „Am Abend, da es kühle war“ BWV 244/Nr. 64 

Im Garten des Karfreitags befindet sich das Grab Jesu. Hier will ich es heute aushalten, dass es auch in meinem ganz persönlichen Lebensgarten Gräber gibt – die Gräber von Menschen, die mir nahestanden. Die Gräber von Menschen, die ich nur aus der Ferne oder gar nicht gekannt habe. Die Gräber, die ich mir selbst immer wieder grabe. Im Garten des Karfreitags will ich es heute aushalten, dass es den Tod mitten im Leben gibt.

Jesus ist da an den Gräbern meines Lebens

Hier, in diesem Garten kann ich das aushalten. Weil sich in seiner Mitte das Grab Jesu befindet. Das bedeutet für mich: Jesus ist mir vorausgegangen. Er ist schon da an den Gräbern meines Lebens. Er ist schon da, wenn ich von meinen Lieben Abschied nehmen muss. Er ist schon da, wenn ich mir mit meiner Grübelei selbst ein Grab geschaufelt habe und nun verzweifelt versuche, mich daraus zu befreien. Er ist schon da, wenn ich irgendwann einmal ins Grab hineingelegt werde. An keinem Grab bin ich allein. In keinem Grab bin ich allein. Denn Jesus ist schon da.

Er ist direkt neben mir – Schulter an Schulter. Und er ist ansprechbar. Ich kann an seiner Schulter weinen, klagen, zagen. Ich kann schreien oder flüstern, lautlos die Lippen bewegen oder auch schweigen. Er ist da. Er hält mit mir aus.

Weiter sind wir heute noch nicht. Es ist erst Karfreitag. Jesus ist tot. Josef von Arimathäa und Nikodemus haben seinen Leichnam vom Kreuz abgenommen und in einem nahegelegenen Garten begraben. Das Grab haben sie mit einem großen Stein verschlossen. Schwer und scheinbar unverrückbar liegt er da. Alles ist still. Totenstill. Alles hier erinnert mich an einen Wintergarten. Doch dieses Grab in seiner Mitte, Jesu Grab, ist ein neues Grab. Der Evangelist Johannes schreibt am Ende seines Passionsberichtes: „Es war aber an der Stätte, wo Jesus gekreuzigt wurde, ein Garten und im Garten ein neues Grab. Dahin legten sie Jesus.“ Jesu Grab ist ein neues, es ist ein nie zuvor dagewesenes Grab. Denn es wird den, der dort hineingelegt ist, wieder herausgeben müssen. Es wird den, den sie dort hineingelegt haben, nicht halten können. Der Tod wird das Leben nicht halten können. Jesus wird auferstehen. Und mit ihm auch du und ich. Das ist meine Hoffnung. Darauf vertraue ich – schon heute, am Karfreitag.

Musik: Antonio Vivaldi, Sinfonia h-moll “Al Santo Sepolcro” RV 169, 2. Satz: Allegro ma poco 

 

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