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Frühling und die Auferweckung zum Leben
Bild: milczewsky

Frühling und die Auferweckung zum Leben

Helmut Schlegel
Ein Beitrag von Helmut Schlegel, Franziskanerpater, Exerzitienbegleiter und Geistlicher Begleiter, Frankfurt
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Ich glaube, ich bin ein Frühlingsmensch. Seit es früher hell wird, gehe ich am Morgen zuallererst zum Fenster in meinem Schlafzimmer, das nach Südosten zeigt. Wie sieht der Himmel heute aus? Hat er sich mit einer Wolkendecke zugezogen oder lässt er auf einen Sonnentag hoffen? Wenn es das Wetter zulässt, mache ich schon früh einen kleinen Spaziergang. Da ist jeden Tag was Neues zu sehen. Nach den Gänseblümchen, die auch der Winter nicht vertreiben konnte, kommen jetzt auch die Krokusse, die Duftveilchen, die Leberblümchen und viele anderen Blüten zum Vorschein.

Plötzlich von grünen Farbtupfern durchbrochen

Wenn ich Zeit habe, führt mein Weg in den nahegelegenen Wald. Der Boden, der sich monatelang in eine dunkelbraune Decke kleidete, wird plötzlich von grünen Farbtupfern durchbrochen. Mehr und mehr tritt das abgestorbene Laub in den Hintergrund und überlässt dem zart sprießenden Leben den Vortritt. Gierig saugen meine Augen die Farben und meine Lunge die würzige Luft ein. Ich spüre, wie mich gute Laune erfüllt.

Ein Wunder, über das ich nur staunen kann

Woher nimmt die Natur diese geheimnisvolle Kraft? Hat die Sonne sie aufgeweckt? Oder ist da eine innere Uhr, die allem Lebendigen innewohnt? Wie auch immer, es ist für mich ein Wunder, über das ich nur staunen kann. Irgendwie bin ich verändert, wenn ich nach meinem Rundgang wieder zurückkomme.

Meine Seele atmet auf und freut sich an der Sonne

Der Frühling berührt mein ganzes Wesen: meinen Körper, der nach dem ermüdenden Winter neue Kräfte tankt, meine Seele, die aufatmet und sich an der Sonne freut. Nicht zuletzt belebt der Frühling auch meine Beziehung zu Gott. Ich kann mir die erwachende Schöpfung nicht anders erklären, als dass hier eine göttliche Kraft am Werk ist. Ich staune und bin dankbar.

Die Fastenzeit will mich im Grunde zu mehr Leben einladen

Ich finde, Antonio Vivaldi hat in seinen „Vier Jahreszeiten“ für den Frühling eine besonders schöne Musik komponiert. Hören Sie den ersten Satz davon. 

Musik 1: Antonio Vivaldi, Vier Jahreszeiten 1. Satz.  (Allegro)

In der christlichen Kultur korrespondiert der Frühling mit der sogenannten Fastenzeit. Für mich ist sie keine triste Bußzeit. Sie will mich ja im Grunde zu mehr Leben einladen. Ihre geistlichen Wurzeln hat die vierzigtägige Fastenzeit in den vierzig Tagen, die Jesus in der Wüste verbracht hat. So erzählen es die Evangelien in der Bibel. Ganz auf sich selbst gestellt, wurde er sich dort seiner Sendung bewusst und schöpfte Kraft für seinen Weg.

Verbrauchte Gewohnheiten aufgeben und neue Wege gehen

Eine weitere, noch ältere Wurzel ist die vierzigjährige Wanderschaft des Volkes Israel, von der uns die hebräische Bibel erzählt. Unter der Führung ihres Propheten Mose haben sich die Israeliten aus der Gefangenschaft in Ägypten losgerissen und auf den Weg ins Gelobte Land gemacht. Bis heute erinnern sich gläubige Juden an dieses Ereignis, wenn sie Pessach feiern. Nicht ohne Grund fällt dieses Fest in die Frühlingszeit, denn Aufbruch ist das bestimmende Thema des Pessach. Bei der Feier in der Familie werden ungesäuerte Brote gegessen. Davor ist der alte Sauerteig entfernt worden – ein zeichenhafter Appell, alte und verbrauchte Gewohnheiten aufzugeben und neue Wege zu beschreiten. An den Auszug aus Ägypten erinnert auch das junge Lamm, das beim Festmahl verzehrt wird. Damals hatten die Israeliten die Türpfosten ihrer Häuser mit dem Blut der Tiere bestrichen, damit Gott – so wörtlich – „an den Häusern unserer Väter vorüberging“ (Ex 12,27) und ihr Leben schonte.

Musik 2: Antonio Vivaldi, Sonate F-Dur für Altblockflöte und Continuo, Largo

Beim Osterfest und Pessach geht es um Abschied und Neuanfang

Das christliche Osterfest wurzelt ganz tief im jüdischen Pessach. In beiden Festen geht es um Abschied und Neuanfang, um Gefangenschaft und Befreiung, um Tod und Auferstehung. Die jungen Christengemeinden haben dem Pessach eine neue Bedeutung gegeben: Für sie tritt jetzt Jesus und seine Geschichte in den Vordergrund. Seine Auferweckung ist auch ein Aufbruch in neues Leben, Gott selbst holt ihn heraus aus der Gefangenschaft des Dunkels und des Todes und Gott bestätigt damit auch das Leben, das Jesus geführt hat, voller Hingabe an Gott und voll Liebe für die Geschöpfe.

Wie Jesus Lazarus aus dem Grab ruft

Die Gottesdienste der Fastenzeit bereiten die Gläubigen ganz langsam auf das vor, was an Ostern gefeiert wird. Am heutigen Sonntag wird in den katholischen Gemeinden ein Evangelium gelesen, das auf den ersten Blick befremdet. Es erzählt, wie Jesus einen Toten aus dem Grab ruft. Dabei handelt es sich um einen nahen Freund mit Namen Lazarus. Allein schon der Name des Verstorbenen macht deutlich: Es geht hier um eine Geschichte mit symbolischer Bedeutung Der hebräische Name „El Azar“ heißt übersetzt: „Gott hat geholfen“. Eben dies will die Geschichte den Hörerinnen und Hörern in Erinnerung rufen: Du darfst dir der göttlichen Hilfe gewiss sein. Er hat dir bisher geholfen und wird es weiter tun. - Lazarus wird auch an anderen Stellen des Johannesevangeliums erwähnt. Er und seine beiden Schwestern Maria und Martha stehen Jesus sehr nahe. Immer wieder nehmen sie ihn als Gast in ihrem Haus auf. Eines Tages, so erzählt das heutige Evangelium, erfährt Jesus, dass sein Freund Lazarus schwer krank ist. Statt sich sofort auf den Weg nach Bethanien zu machen, wo die drei Geschwister zu Hause sind, wartet Jesus ab. Dann aber stirbt Lazarus, die Aufregung der Geschwister ist groß, und als Jesus endlich kommt, machen sie ihm Vorwürfe. Marta sagt: „Herr, wärst du hier gewesen, dann wäre mein Bruder nicht gestorben.“ (Joh 11, 21). Hören wir den dramatischen Schluss der Geschichte:

Sie nahmen den Stein weg und der Verstorbene kam heraus

Jesus wurde „innerlich erregt und er ging zum Grab. Es war eine Höhle, die mit einem Stein verschlossen war. Jesus sagte: Nehmt den Stein weg! Marta, die Schwester des Verstorbenen, sagte zu ihm: Herr, er riecht aber schon, denn es ist bereits der vierte Tag. Jesus sagte zu ihr: Habe ich dir nicht gesagt: Wenn du glaubst, wirst du die Herrlichkeit Gottes sehen? Da nahmen sie den Stein weg. Jesus aber erhob seine Augen und sprach: Vater, ich danke dir, dass du mich erhört hast. Ich wusste, dass du mich immer erhörst; aber wegen der Menge, die um mich herumsteht, habe ich es gesagt, damit sie glauben, dass du mich gesandt hast. Nachdem er dies gesagt hatte, rief er mit lauter Stimme: Lazarus, komm heraus! Da kam der Verstorbene heraus; seine Füße und Hände waren mit Binden umwickelt und sein Gesicht war mit einem Schweißtuch verhüllt. Jesus sagte zu ihnen: Löst ihm die Binden und lasst ihn weggehen! Viele der Juden, die zu Maria gekommen waren und gesehen hatten, was Jesus getan hatte, kamen zum Glauben an ihn.“ (Joh 11, 38-45)

Musik 3: Antonio Vivaldi, Sonate F-Dur für Altblockflöte und Continuo, Allemande

Glauben ist ein Tu-Wort

Die Geschichte von der Auferweckung des Lazarus hinterlässt Fragen in mir. Dass Jesus Kranke berührt und durch machtvolle Worte geheilt hat, das kann ich gut nachvollziehen. Heilung geschieht ja auch heute durch die Nähe guter Menschen, durch die Stärkung unseres Selbstvertrauens und unserer seelischen Widerstandskräfte. Zweifellos hatte Jesus allein durch sein kraftvolles Auftreten, durch seinen ungebrochenen Glauben und seine Menschlichkeit eine große heilsame Ausstrahlung. Aber dass ein Toter nach drei Tagen aus dem Grab gerufen wird, das erscheint mir doch sehr unwahrscheinlich. Da finde ich den Hinweis des Evangelisten Johannes hilfreich, der nicht von Wundern spricht, sondern von Zeichen. Es geht um viel mehr als um ein sichtbares und nachprüfbares Geschehen. Wer in den Dingen und Ereignissen Zeichen sieht, sieht tiefer und kann zum Glauben finden. So wie die Zeichen des Frühlings viele Menschen auch heute zum Glauben an Gott motivieren. Genau besehen, zielt die ganze Geschichte, die Johannes erzählt, auf den Schlusssatz: „Viele kamen zum Glauben an ihn“ (Joh 11,45). Mit Glauben ist hier allerdings kein tatenloses Abnicken religiöser Wahrheiten gemeint. Glaube ist ein Tu-Wort. Ganz nebenbei steht in der Geschichte, was Jesus von den Glaubenden erwartet: „Nehmt den Stein weg!“, sagt er, bevor er Lazarus aus dem Grab ruft. Und danach: „Löst ihm die Binden!“

Sich von den Steinen und Binden im Leben lösen

Nehmt den Stein weg! Löst die Binden! Deutlicher kann ein Auftrag nicht sein. Er geht nicht nur an die Menschen von damals, er geht auch an uns heute. Ich denke, nicht nur jene Steine sind gemeint, mit den Mauern gebaut oder Gräber verschlossen werden. Und nicht jene Binden, mit denen Wunden bedeckt und Tote verhüllt werden. Unter den Steinen, die Jesus meint, verstehe ich zum Beispiel manche zwischenmenschlichen Barrieren und Blockaden. Mir persönlich werden sie bewusst, wenn ich ehrlich und selbstkritisch meine Beziehungen meditiere. Unter den Binden versteckt sich manches Urteil, das ich im Ärger abgebe und mit dem ich mich und andere fessele. Glauben bedeutet also, diese Steine und Binden ehrlich in Blick zu nehmen. Wenn ich mich von den Steinen und den Binden in meinem Leben löse, dann kann auch bei mir eine Befreiung zu neuem Leben geschehen.

Musik 4: Antonio Vivaldi, Sonate F-Dur für Altblockflöte und Continuo, Allegro

„Here Comes the Sun“

Zu den Frühlingsmusiken, die mir besonders gefallen und von den wir heute einige hier zu Gehör bringen, zähle ich auch ein Lied der Beatles. Genauer gesagt einen Song von George Harrison. Er hat ihn im Frühling 1969 geschrieben. Dabei war er damals im Grunde überhaupt nicht in Frühlingsstimmung, sondern steckte in einer tiefen Krise. Trotzdem oder gerade deswegen entstand dieses Lied: „Here Comes the Sun.“ Hier kommt die Sonne. Immer wieder dieser Refrain. Und der Nachsatz: It’s allright. Und ich sage dir, es ist in Ordnung.

Eines Tages schwänzte ich meine Arbeit und holte die Gitarre

Harrison beschreibt in seiner Autobiografie die Entstehung dieses Liedes so:

„Here Comes the Sun wurde zu der Zeit geschrieben, als die Arbeit bei Apple so wurde, als müssten wir wieder zur Schule gehen und Geschäftsleute sein; all diese Rechenschaftsberichte unterschreiben, ‚unterschreibe dies‘ und ‚unterschreibe das‘. Irgendwie scheint es, als ob der Winter in England niemals endet; wenn der Frühling kommt, hast du das wirklich verdient. Eines Tages beschloss ich, meine Arbeit bei Apple einfach zu ‚schwänzen‘ und ich ging zu Erics Haus: […] Die Befreiung (...) war wunderbar, und ich ging mit einer von Erics akustischen Gitarren durch den Garten und schrieb Here Comes the Sun.“  (George Harrison: I, Me, Mine, S. 144 zitiert nach wikipedia.)

Musik 5: Beatles, Here Comes the Sun

Sein Leben lang auf spiritueller Suche

George Harrison von den Beatles war ein Leben lang auf spiritueller Suche, er stand in Verbindung mit indischen Weisheitslehrern und praktizierte Meditation nach fernöstlicher Art. Sein humanes und gesellschaftliches Engagement zeigte er u.a. im Konzert für Bangladesch, das er 1971 organisierte.

Mit Blick auf den auferstandenen Christus wage ich zu hoffen

Ich persönlich höre sein Lied nicht nur als Frühlingslied, sondern als einen Song mit österlicher Hoffnung. Ich erlaube mir, es auf meine Weise zu interpretieren. „Hier kommt die Sonne. Und ich sage, es ist alles in Ordnung.“ Das könnte ich auch über die Lazarus-Geschichte schreiben: Die Schwestern des Lazarus haben es so erfahren: Jesus war für sie wie das Sonnenlicht, das ihre traurige Situation aufhellte. Und so deuten Christinnen und Christen auch das Ostergeschehen. Ich freue mich auf den Ostermorgen und singe dann gerne das Halleluja. Ich könnte auch singen: Hier kommt die Sonne. Und ich sage, es ist alles in Ordnung. Ich weiß: Das kann ich nur mit Vorbehalt sagen: Es ist gewiss nicht alles in Ordnung. Mit dem Blick auf den auferstandenen Christus wage ich jedoch zu hoffen: In Gott ist alles aufgehoben. Und ich kann mitwirken an einer neuen österlichen Ordnung.

Musik 6: Antonio, Vivaldi, Sonate II C-Dur für Blockflöte und Continuo, Allegro Assai

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