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Bleiben und Aufbrechen
Bild: medio.tv / Tobias Frick

Bleiben und Aufbrechen

Karl Waldeck
Ein Beitrag von Karl Waldeck, Pfarrer, ehem. Direktor Evangelische Akademie Hofgeismar, Kassel
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Kirche im Dorf 

„Nun lass doch mal die Kirche im Dorf,“ sagt mein Gegenüber. – Ich höre es und finde: Das ist eine schöne Redewendung, ein starkes Bild. Zugleich frage ich mich, was damit eigentlich gemeint ist – „Die Kirche im Dorf lassen“. Ich verstehe es so:  Wer die Kirche nicht im Dorf lässt, hat etwas Unerwartetes, Übertriebenes, Abwegiges gesagt oder getan. Denn die Kirche gehört ins Dorf - das Kirchengebäude und die Menschen, die mit der Kirche verbunden ist: die Gemeinde.

Kirchen prägen die Orte, in denen sie stehen

„Die Kirche im Dorf lassen“ – Bilder fallen mir dazu ein: Dörfer mit ihren Kirchen, in der Region genauso wie in fernen Ländern: Die Kirche prägt das Dorf, in der sie steht. Zwei kleine Dörfer in meiner nordhessischen Heimat, zwei unter vielen, habe ich vor Augen: Kaum 100 Einwohner leben in ihnen, und doch haben sie jeweils eine ganz markante Kirche: Da ist die Kirche in Volkardinghausen, ein Dorf im Waldeckischen: mit einer mittelalterlichen Klosterkirche – bzw. was von ihr geblieben ist. Zum anderen Mäckelsdorf, nahe des Hohen Meißners gelegen. Dort steht eine ungewöhnliche Jugendstil-Fachwerkkirche.

Kirchen geben Heimat

Beiden Dörfern würde ohne ihre Kirchen etwas fehlen. Kirchen haben etwas Identitätsstiftendes; sie geben Heimat über ihre Architektur hinaus. Sie stehen für etwas Verlässliches, das bleibt – bei allem, was sich in der Welt ändert. Damit Kirchen bleiben, so wie sie sind, brauchen sie Pflege; sie müssen erhalten werden. Tatsächlich ist das ein kostspieliges Unterfangen und bei steigenden Preisen heute mehr denn je eine Herausforderung. Doch ich habe den Eindruck: Die Kirchen sind vielen Menschen „lieb und teuer“; sie sind ihnen ans Herz gewachsen. Deshalb sollen sie bleiben. „Nun lass mal die Kirche im Dorf.“ Ich kann diesen Satz gut hören mit der Botschaft, die aus ihr spricht.

Musik: Fernando Sor, Variationen über ein Thema von Mozart op. 9: Thema und Variation 1 (2‘)

Kirche auf Wanderung – Bleiben und Unterwegssein 

Die Kirche im Dorf entdecke ich meistens beim Wandern. Komme ich auf meinem Weg in ein Dorf, mache ich gerne an der Kirche halt. Wenn sie geöffnet ist, lege ich eine kleine Pause in der Kirche ein. Wandern tut dem Leib gut - und auch der Seele.

Der Unterscheid zwischen Kirchengebäuden und Wandern

Kirche und Wandern kommen so zusammen. Doch es gibt etwas, das Kirchengebäude und Wandern bereits im Ansatz unterscheidet. Die Kirche, speziell das Kirchengebäude steht für das, was bleibt und bleiben soll. Wandern hingehen ist Bewegung. Wer wandert, der bleibt gerade nicht. Wandern ist mit einem Ortswechsel verbunden. Zwar gehören auch zum Wandern ein Ziel und Ankommen. Doch erst einmal geht es um Aufbrechen und Unterwegs sein. Wandern heißt auf dem Weg sein durch die Zeit. Deshalb ist Wandern auch ein Bild für den Pilgerweg des eigenen Lebens, zu dem Aufbruch und der Weg hin zu einem Ziel gehören.

Bleiben und Aufbrechen - beides gehört zum Glauben

Die Kirche, die bleibt - auf der einen Seite. Wandern, Aufbrechen und unterwegs sein - auf der anderen. Beides, Bleiben genauso wie Aufbrechen, ist eng mit dem Glauben der Bibel verbunden. Einerseits ist in der Bibel oft vom Wunsch zu lesen, einen Ort zu haben, um bleiben zu können: Das Volk Israel sehnt sich, das gelobte Land zu erreichen und sesshaft zu werden. Als es schließlich erreicht ist, hoffen die Israeliten, in der neugewonnenen Heimat in Frieden dauerhaft bleiben zu können. Am Ort bleiben zu können, bedeutet auch eine regelmäßige Wiederkehr des Lebens: im Rhythmus der Jahreszeiten und Festzeiten des Jahres, der Monate und Wochen zu erleben: Woche für Woche versammelt sich in der Kirche die Gemeinde, um Gottesdienst zu feiern und Gottes Wort zu hören Zum Glauben gehört bleiben, zumindest der Wunsch, bleiben zu können.

Gott bringt Menschen in Bewegung

Doch Glauben heißt auch aufzubrechen: In der Bibel wird berichtet, dass Gott an entscheidenden Punkten Menschen auf einen neuen Weg schickt. Menschen sollen dann gerade nicht bleiben, wo sie sind. Sie sollen sich auf den Weg machen, den Gott ihnen weist. Dieser Weg kann lang sein, auch beschwerlich – und sein Ziel ist vorher dem Menschen unbekannt. Doch gerade auf diesem Weg, hin zu einem neuen, nicht vertrauten Ort, gibt sich Gott zu erkennen. 
Gott bringt Menschen in Bewegung. Davon berichten das Alte und auch das Neue Testament. Gott ermutigt den Menschen zu „Mobilität“ – könnte man mit einem prominenten Wort unserer Tage sagen. Bei der von Gott geforderten Mobilität geht es jedoch nicht um das bloße Unterwegssein, um Reisen um des Reisens willen. Gott schickt den Menschen auf neue Wege und verbindet das mit einem konkreten Ziel. 

Gott bringt Menschen dazu, sich in Bewegung zu setzen. Neues ist zu erwarten. Das klingt gut. Doch es gibt keinen Aufbruch ohne Abschied. Wer aufbricht, der lässt stets auch etwas zurück: Und oft bedeutet es, dass der Weg für eine Rückkehr in das Bisherige nicht mehr offensteht. 

Musik: Fernando Sor, Variationen op. 9: Variation 2 

In Gottes Namen unterwegs – Abraham, Mose, Jesus, Paulus 

Es sind vier Personen der Bibel, an denen ich mir immer wieder beispielhaft vor Augen führe, wie Gott Menschen in Bewegung bringt: Im Alten Testament sind es Abraham und Mose, im Neuen Testament Jesus und Paulus. Sie folgen Gottes Stimme und brechen auf - und das hat Folgen.

Abrahams Aufbruch und Gottes Verheißung

Gott fordert Abraham auf, er heißt da noch Abram, seine alte Heimat zu verlassen und verheißt ihm und seinen Nachkommen ein neues Land und eine neue Heimat. Im 1. Buch Mose heißt es: Und der HERR sprach zu Abram: Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will. Und ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein.

Es klingt verlockend: von Gott gesegnet zu werden und anderen ein Segen zu sein – genauso die Verheißung, einst ein großes Volk zu werden. Wer würde da nicht gerne aufbrechen!? Doch dieser Aufbruch ist mit einem Verlust verbunden: Brich auf, sagt Gott, geht weg aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft. Das Vertraute, die Heimat geht verloren, Abraham erwartet ein Migrantenschicksal. Er muss seine Verwandtschaft verlassen. Was dieser Schritt bedeutet, kann nur ermessen, wem bewusst ist, welche lebenswichtige Rolle die Sippe, die Großfamilie zur Zeit Abrahams gespielt hat. Doch Abraham bricht auf, er lässt das Alte hinter sich – nur das Vertrauen auf Gottes Verheißung ist sein Kompass. 

Abraham bricht mit seiner Frau, einigen Verwandten und Bediensteten und seiner Herde auf, und geht den Weg, den Gott ihn gewiesen hat. Am Ende seines Weges hat er das erreicht, was Gott ihm verheißen hat: ein Land, in dem es ihm gut geht, einen Nachkommen, schließlich auch den von Gott verheißenen „großen Namen“: Für Juden, Christen und Muslime ist Abraham ein Urbild für den Menschen, der Gott vertraut.

Auch Mose macht sich auf

Im 2. Buch Mose, im Buch Exodus, hören wir von der Aufbruchsgeschichte des Moses. Nicht ein überschaubarer Familienverband, sondern ein ganzes Volk soll nach Gottes Wille unter der Leitung Mose aufbrechen. Das Volk Israel ist in Ägypten in Knechtschaft gefangen. Gott erscheint Mose und sagt ihm „Ich habe das Elend meines Volks in Ägypten gesehen, und ihr Geschrei über ihre Bedränger habe ich gehört; ich habe ihre Leiden erkannt. Und ich bin herniedergefahren, dass ich sie errette aus der Ägypter Hand und sie aus diesem Lande hinaufführe in ein gutes und weites Land, in ein Land, darin Milch und Honig fließt.“ Aufbrechen heißt hier Befreiung aus der Knechtschaft.

Der Weg in die Freiheit birgt auch Risiken

Der Weg führt in die Freiheit und - nicht nur das – in ein gutes weites, fruchtbares Land.

Grundsätzlich auch das eine großartige Aussicht! Doch selbst dieser Aufbruch hat Risiken: Es geht durch die Wüste, einen lebensfeindlichen Ort. Und wann diese Wüstenwanderung einmal endet, ist ungewiss. Gott nennt keinen Zeitplan und Mose kennt keinen. Er kann dem Volk nichts darüber sagen. Beim Volk Israel stellt sich angesichts dieser Ungewissheit über das eigene Schicksal und den Weg durch eine unwirtliche Landschaft schon bald Frustration ein. In Zeiten der Unsicherheit wächst die Sehnsucht nach der vermeintlich besseren Vergangenheit, damals wie heute: Lieber wären die Israeliten dort geblieben, wo sie Sklaven waren und gelitten hatten. Ein Leben ohne Freiheit zwar; dort aber gab es zumindest geregelte Verhältnisse, etwa ausreichend Essen. Aufbrechen, auch unter der Verheißung Gottes, ist tatsächlich nicht immer komfortabel; oft genug ist es entbehrungsreich – mit allen Konsequenzen. Gott hatte den Israeliten ein „Gelobtes Land“ verheißen. Doch wann wird das Ziel erreicht? Als es schließlich in Sicht kommt, nach 40 Jahren, ist das Glück verständlicherweise groß, doch die Bilanz auch ernüchternd: Keiner von denen, die einst in Ägypten aufgebrochen sind, wird das gelobte Land erreichen, selbst Mose kann es nur sehen, nicht betreten. Doch Mose hat erlebt, dass Gott ihn auf seinem Weg begleitet hat – durch alle Krisen. Gottes Verheißungen enden nicht mit Moses Tod: Die Generation nach ihm wird das von Gott versprochene gelobte Land erreichen.

Musik: Lou Harrison, Serenado por Gitaro

In Gottes Namen unterwegs – Jesus und Paulus 

Gott lässt Menschen aufbrechen, selbst wenn man schon im Gelobten, im Heiligen Land lebt. Im Neuen Testament ist Jesus dafür das beste Beispiel:  
Nicht bleiben, sondern unterwegs sein – bereits die Umstände der Geburt Jesu sind ein Anzeichen dafür: Auf Reisen, in einem Stall, einer Umgebung, die nicht zum Bleiben einlädt, bringt Maria ihren Sohn zur Welt. 

Der Weg Jesu

Als Mann Anfang dreißig beginnt Jesu seine frohe Botschaft, das Evangelium zu verkündigen. Dazu lädt er nicht in etwa in ein Gotteshaus ein oder lässt Menschen an einem anderen Ort zu sich kommen: Er ist unterwegs, sucht Menschen auf. Jesus ist ein Wanderprediger und Lehrer auf dem Weg - aus seiner Heimat Galiläa bis nach Judäa, nach Jerusalem. Ein Leben auf der Straße. Fast alles, was Jesus lehrt und tut, geschieht auf diesem Weg. Er ermutigt die Menschen, die seine Botschaft hören und annehmen, auch aufzubrechen: Kehrt um, folgt mir nach! Ein Neuanfang ist möglich. Und manche folgen Jesus, Männer wie Frauen – sie brechen auf und oft lassen sie Beruf und oder Familie hinter sich.

Am Ende seines irdischen Lebensweges ist Jesus in Jerusalem, dem religiösen Zentrum mit seinem Tempel, angekommen. Doch auch dies ist für ihn kein Ort, um zu bleiben: Jesus lehrt, er provoziert, er wird gefangen genommen und getötet. Doch der Tod ist mit und seit Jesus nicht die letzte Ruhe, auch das Grab nicht der Ort, um dort ewig zu bleiben. Gott weckt Jesus von den Toten auf, ein neuer Aufbruch! Jesus ist weiter unterwegs, etwa an der Seite zweier Jünger auf dem Weg in den kleinen Ort Emmaus. Der auferstandene Jesus schickt seine Jünger, so berichtet es das Matthäusevangelium, gleich zweimal auf den Weg: zunächst von Jerusalem nach Galiläa. Dort von Jesu Heimat aus sollen sie wieder aufbrechen und in alle Welt die frohe Botschaft, das Evangelium bringen.

Ein Aufbruch unter neuem Namen

Einer, der das kurze Zeit später hört und ernstnimmt, ist ein Mann namens Saulus. Geboren in Tarsus, in der heutigen Türkei, ist er zunächst ein Feind der jungen christlichen Gemeinde. Als er auf dem Weg ist, die Gemeinde in Damaskus zu verfolgen, offenbart sich Jesus ihm: und schickt ihn auf einen neuen Weg – ein neuerlicher Aufbruch unter neuem Namen: Paulus statt Saulus! Paulus kehrt nicht in seine Heimat zurück, er bricht nach Gottes Willen auf: Er bringt das Evangelium Jesu in die Länder des östlichen Mittelmeers, ins heutige Syrien und die heutige Türkei und schließlich nach Europa. Paulus verkündigt die frohe Botschaft Jesu und lässt so Menschen ihrerseits aufbrechen: Männer wie Frauen, Juden und Nicht-Juden, Freie wie Sklaven.

Durch dieses Unterwegssein entsteht Kirche – erst im Mittelmeerraum, dann in ganz Europa, schließlich in aller Welt. 

Musik: Lou Harrison, Jahla in Form of a Ductia 

Christsein heißt Bleiben und Unterwegs sein 

Die Kirche im Dorf lassen oder Aufbrechen? Zwei Seiten des Glaubens sind das! Ein Widerspruch, gar ein unüberwindlicher? Ich sehe es so: Zum Leben gehören Phasen des Bleibens und des Aufbrechens. Nicht in jeder Zeit unseres Lebens gibt es fundamentale Brüche, es gibt auch Kontinuität, unser Leben ist im Fluss. Aufbrechen bedeutet nicht unbedingt einen Ortswechsel. Nicht jeder muss ein Wanderprediger werden, nicht jede als Botin des Evangeliums ferne Länder aufsuchen. Gott braucht uns grundsätzlich an dem Ort, an dem wir sind. Gottes Wille ist, dass wir bleiben und dabei zugleich mobil bleiben: offen für Neues, für neue Wege, auf die uns Gott weist. Auch wer bleibt, sollte bereit sein zum Aufbruch! Für beides brauche ich Gottes Beistand: ein offenes Ohr dafür, was Gott mir sagen will, und durch alle Lebensphasen ein junges, mutiges Herz. 

Musik:   J.S. Bach, Suite in E-Dur BWV 1006a: Gigue 

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