Ihr Suchbegriff
Beitrag anhören:
Ein mutiger Schritt: Lesen lernen
Bild: Pixabay

Ein mutiger Schritt: Lesen lernen

Christoph Schäfer
Ein Beitrag von Christoph Schäfer, Katholischer Religionslehrer, Rüsselsheim
Beitrag anhören:

Mir war lange nicht klar, was das bedeutet: Als Erwachsener im Alltag zu bestehen, ohne richtig lesen zu können. Aber dann hab ich für eine Bildungsstiftung gearbeitet. Und bei Aktionen Menschen kennen gelernt, die von sich sagten: Sie sind Analphabeten. Oft sind mir die Gespräche unter die Haut gegangen. Ein Logistik-Arbeiter hat mir erzählt: Lange Zeit hatte er panische Angst, dass man ihn entlässt. Wenn nämlich herauskommt: Er kann nicht richtig lesen. Deshalb hatte er immer heimlich eine Tonaufnahme von seiner To-Do-Liste gemacht. Um bloß keine Fehler zu machen. 

Welttag der Alphabetisierung

Heute denk ich ganz bewusst an ihn und die anderen Gesprächspartner von damals: Die UNESCO begeht den Welttag der Alphabetisierung. Und macht so auf ein enormes Problem aufmerksam: Allein in Deutschland können Millionen Erwachsene so schlecht lesen, dass sie als funktionale Analphabeten gelten. Sie verstehen Alltagstexte nicht. Auch wenn sie oft das Alphabet kennen. 

Angst vor Ausgrenzung 

Wie kann das passieren – in einem Industrieland wie Deutschland nicht lesen zu lernen? In Gesprächen hab ich von zerrütteten Familien erfahren. Von Krankheiten, die Schulbesuch unmöglich gemacht haben. Und von Tarnung. Denn sehr viele Betroffene haben jahrelang Angst vor Ausgrenzung. 

Sie wissen, warum sie das tun

Die Analphabeten, die damals bei den Aktionen mitgemacht haben, waren da eine große Ausnahme: Sie hatten den Schritt aus der Anonymität gewagt. Und lernten in speziellen Kursen lesen. Ein Kraftakt. Aber die Betroffenen haben ausgestrahlt: Sie wissen, warum sie das tun. Mir hat etwa eine Frau erzählt: „Ich mach das nicht für mich, sondern für mein Kind. Es soll mich nicht als Vorbild nehmen und genauso ins Abseits geraten wie ich.“ Mir ist nach solchen Gesprächen klar geworden: Beim Thema Lesen geht es um Lebenschancen. Um die Möglichkeit, in der Gesellschaft aktiv mit dabei zu sein. Denn das funktioniert auch in Zeiten von Computer und Internet letztlich nur, wenn man lesen kann. 

Er braucht einfach Hilfe

Ich hab wirklich größten Respekt vor allen Menschen, die noch im Erwachsenenalter lesen und schreiben lernen. Und nehm mir vor: Ich will zumindest ein bisschen dazu beitragen, dass Erwachsene die Chance dazu bekommen, lesen zu lernen. Indem ich für Bildungsprojekte spende. Aber auch, indem ich im Alltag Position beziehe. Und klar sage: Wer als Erwachsener nicht lesen kann, der braucht alles andere als ein arrogantes Stirnrunzeln. Sondern schlicht und einfach Hilfe.

 

Weitere ThemenDas könnte Sie auch interessieren